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Der Brief des Kaisers Alexius Komnenus an den Grafen Robert von Flandern
An den ruhmreichen Herrn Grafen Robert von Flandern und an alle Fürsten des gesamten Königreichs, Freunde des christlichen Glaubens, heilige wie weltliche: der Kaiser von Konstantinopel entbietet Grüße und Frieden in unserem Herrn Jesus Christus und seinem Vater und dem Heiligen Geist.
O hochberühmter und großer Verteidiger des christlichen Glaubens! Der Zweck dieses Briefes ist es, Euch aufzurufen, mit Eurer Weisheit darüber zu richten, wie schwer das allerheiligste christliche Kaiserreich der Griechen von den Petschenegen und Türken tagtäglich bedrückt, ausgeplündert und fortwährend überfallen wird, wobei Christen getötet und auf mannigfache, unbeschreibliche Art verhöhnt werden. Der Übel sind viele und sie sind, wie wir bereits sagten, unbeschreiblich; daher werden wir unsere Schilderung auf einiges wenige beschränken - das nichtsdestotrotz schrecklich anzuhören ist und, wem es im einzelnen erzählt wird, den Atem stocken läßt. Zum Beispiel beschneiden sie Knaben und Jugendliche über christlichen Taufbecken, gießen das Blut der Beschneidung zur Verhöhnung Christi in die Taufbecken, zwingen sie, darüber zu urinieren und schleppen sie dann um die Kirche herum und pressen ihnen ab, den Namen und Glauben an die heilige Dreieinigkeit zu lästern. Die sich weigern werden verschiedenen Bestrafungen unterzogen und oft auch getötet. Währenddessen berauben und verhöhnen sie Edelfrauen und ihre Töchter, wechseln sich darin ab, sie wie Tiere zu schänden. Wieder andere setzen als Ausdruck ihrer Verdorbenheit Jungfrauen vor ihre Mütter hin und verlangen von ihnen, verruchte und geile Lieder zu singen, bis sie ihre schmutzigen Handlungen vollendet haben. Das, worüber wir schriftlich unterrichtet sind, was den Kindern Gottes vor langer Zeit widerfahren ist, ist in etwa folgendes: Das gottlose Volk Babylons sprach zu ihnen, nachdem es sich über verschiedene ihrer Altäre lustig gemacht hatte: »Singet uns ein Lied von Zion!« Und während ihre Töchter mißhandelt werden, zwingen sie nun ihre Mütter, unzüchtige Lieder zu singen: deren Stimmen lassen unserer Meinung nach aber kein Lied erklingen, sondern eine Klage, wie im Massaker der Unschuldigen geschrieben steht, daß in Rama ein Geschrei zu hören war: »In Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.« Obwohl aber die Mütter der Unschuldigen, für die Rahel steht, um den Verlust ihrer Kinder nicht zu trösten waren, ließen sie sich wenigstens dadurch, daß sie wußten, daß ihre Seelen gerettet würden, beruhigen; jene waren in einem viel übleren Zustand, untröstlich, weil sie an Leib und Seele verloren waren. Doch dies verblaßt zur Bedeutungslosigkeit verglichen mit dem Schlimmen, was jetzt kommt. Sie zwingen Menschen jeglichen Alters und Standes zur Sünde der Sodomie - Knaben, Jugendliche, junge Männer, Alte, Edle und Diener und, noch schlimmer und noch schrecklicher, Priester und Mönche; und - wehe mir! Schande darüber! - etwas, worüber man noch nie hat erzählen hören, sogar Bischöfe; sie behaupten sogar, daß ein Bischof der Verlockung dieser schrecklichen Sünde nachgegeben hat. Sie entweihen die heiligen Stätten auf mannigfache Art, zerstören sie und drohen ihnen mit noch Schlimmerem. Wer würde das alles nicht beklagen, wer nicht sein Mitgefühl ausdrücken? Und wer wäre dabei nicht entsetzt und würde hier nicht beten? Mittlerweile haben sie sich de facto über das ganze Gebiet von Jerusalem bis Griechenland ausgebreitet wie auch über ganz Griechenland mit seinen oberen Provinzen (das kleine und große Kappadokien, Phrygien, Bithynien, das kleine Phrygien bestehend aus Troja, Pontus, Galatien, Lydien, Pamphylien, Isaurien, Lykien und die wichtigsten Inseln, Chios und Mytilene, und viele andere Räume und Inseln, wobei es uns an Mut gebricht, sie bis Thrakien alle aufzuzählen; außer Konstantinopel bleibt fast nichts, was sie uns nicht in Kürze wegzunehmen drohen, wenn uns nicht Gottes Beistand und die Gläubigen der lateinischen Christenheit zu Hilfe kommen. Denn sie haben mit 200 von den Griechen gebauten Schiffen, die sie beschlagnahmten und, ohne daß jene es wollten, hierher ruderten, nach der Propontis gegriffen (diese ist auch unter dem Namen Avidus bekannt und fließt aus dem Pontus an Konstantinopel vorbei ins Ägäische Meer) und drohen nun in Kürze Konstantinopel von Land und von See aus zu erobern. Wir haben an Euch, den Grafen von Flandern, als einen Freund des christlichen Glaubens geschrieben, um Euch von diesen wenigen, aus einer Vielzahl herausgegriffener Abgefeimtheiten des Bösen in Kenntnis zu setzen. Den Rest wollen wir nun übergehen, um bei unseren Lesern nicht den Eindruck einer Übertreibung zu erwecken.
Auf diese Weise bitten wir Euch, aus Liebe zu Gott und wegen der Frömmigkeit aller griechischen Christen, hierherzuführen, was immer Ihr an echten Gotteskriegern in Euren Ländern finden könnt, die Mächtigen, die weniger Einflußreichen und die Unbedeutenden, um mir und den orthodoxen Christen beizustehen; Eure Krieger sollen jetzt, so wie Ihr etwa Galizien und die anderen Königreiche des Abendlandes von der heidnischen Herrschaft größtenteils befreit habt, das Königreich der Griechen zur Rettung ihrer Seelen befreien. Obwohl ich Kaiser bin, weiß ich dennoch nicht, wo ich Zuflucht nehmen soll oder wie ich einen geeigneten Ausweg finden kann; ich gehe den Türken und Petschenegen aus dem Wege, wo ich kann, und warte dann der Reihe nach in dieser oder jener Stadt ab, bis ich sicher bin, daß sie weg sind. Ich würde mich viel lieber zu Euren lateinischen Altären hinunterbücken als zu denen der Heiden.
Daher solltet Ihr jede erdenkliche Anstrengung unternehmen, sie von der Eroberung Konstantinopels abzuhalten, um auf diese Weise in den Genuß herrlicher und unbeschreiblicher himmlischer Gnaden zu kommen. In Anbetracht der überaus kostbaren Reliquien des Herrn, die man in Konstantinopel findet, ist es besser, daß sie Euch zuteil werden anstatt den Heiden. Hier eine Aufstellung:
- Die Säule, an die Er gebunden wurde;
- Die Geißel, mit der Er gezüchtigt wurde;
- Der Karmesinmantel, in den Er gehüllt wurde;
- Die Dornenkrone, mit der Er gekrönt wurde;
- Das Schilfrohr, welches man Ihm als Scheinzepter in Seine Hand gab;
- Die Kleider, die man Ihm vor der Kreuzigung abnahm;
- Ein größeres Stück Holzes von dem Kreuz, an das Er geschlagen wurde;
- Die Nägel, mit denen Er aufgehängt wurde;
- Die leinenen Wickel, die man in Seinem Grab nach der Auferstehung fand;
- Zwölf Körbe mit Resten von den fünf Laiben und zwei Fischen;
- Das Haupt Sankt Johannes des Täufers vollständig mit Haaren und Bart;
- Reliquien der Körper vieler Unschuldiger und einiger Propheten, Apostel und Märtyrer - insbesondere die des heiligen Stephan des Protomärtyrers - und Bekennern und Jungfrauen, die wir bloß wegen ihrer Zahl nicht im einzelnen aufführen.
Es schickt sich besser für Christen als Heiden, sie alle zu besitzen. Wenn jene sie insgesamt ihr eigen nennen, ist es ein bedeutender Gewinn für die Christenheit, wenn nicht, ein großer Verlust, für den man sie mit verantwortlich macht.
Falls nun die aus dem Abendland sich weigern sollten, dafür zu kämpfen, weil sie lieber Gold sehen möchten, so werden sie in der Stadt mehr davon finden als auf der ganzen übrigen Welt. Die Schätze der Kirchen Konstantinopels allein quellen über von Silber, Gold, Juwelen, Edelsteinen und seidenen Gewändern oder Ornaten, genug für alle Kirchen dieser Welt. Dennoch wiegt der unschätzbare Reichtum der Mutterkirche Sankt Sophia oder Gottes Weisheit alle diese Schätze bei weitem auf und kann ohne den leisesten Zweifel mit den Schätzen des Salomonischen Tempels verglichen werden. Was soll ich darüber hinaus zu den unermeßlichen Schätzen des Adels sagen, wo nicht einmal jemand abzuschätzen weiß, wie hoch der Reichtum ist, der sich in Händen von gewöhnlichen Kaufleuten befindet? Was erst muß noch seiner Entdeckung in den Schatzkammern früherer Kaiser harren? Ich bin sicher, daß keine Sprache hinreichen würde, dies zu beschreiben, weil nicht nur die Schätze ehemaliger Kaiser von Konstantinopel sich darin finden, sondern auch der Besitz aller bisherigen römischen Kaiser dorthin verbracht und in den Palästen versteckt wurde. Was soll ich sonst noch sagen? Was Menschen sehen können ist wenig verglichen mit dem, was verborgen liegt. Daher kommt schnell mit all Euren Streitkräften und kämpft mit all Eurer Kraft, damit Ihr verhindert, daß ein solcher Schatz in die Hände der Türken und Petschenegen gerät. Ihre Zahl kann gut und gern ins Unendliche wachsen, und 60000 werden schon jetzt erwartet. Ich mache mir Sorgen, daß sie wo möglich die Moral unserer Soldaten untergraben, dadurch daß sie ihre Gier nach diesem Schatz ausnutzen wie etwa Julius Caesar, als er ins gallische Königreich eindrang, und wie es auch der Antichrist am Ende der Welt tun wird, wenn sie unter seinen Einfluß gerät.
Somit handelt sofort, solange Euch noch Zeit bleibt. Laßt nicht zu, daß christliche Länder - oder schlimmer noch, das Heilige Grab des Herrn - verloren gehen. Indem Ihr solches tut, werdet Ihr Euch anstelle eines himmlischen Strafgerichts um so eher Vergebung sichern.
Amen.
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