I.
Definition
Rhetorik ist ein zusammenfassender Begriff für die Theorie und Praxis der
menschlichen Beredsamkeit in allen öffentlichen und privaten Angelegenheiten,
ob sie in mündlicher, schriftlicher oder durch die technischen Medien (Film,
Fernsehen, Internet) vermittelter Form auftritt. Als wissenschaftliche Disziplin
beschäftigt sich die Rhetorik mit der Analyse sprachlicher oder der Sprache
analoger Kommunikation (körperliche Beredsamkeit), die wirkungsorientiert, also
auf die Überzeugung des Adressaten hin ausgerichtet ist (persuasive
Kommunikation).
Rhetorik ist eine
Erfahrungswissenschaft, die auf kontrollierter und
empirisch nachweisbarer Beobachtung rhetorischer Sprechakte beruht und die
Geltung der aus ihr gewonnenen Erkenntnisse durch historische Rekonstruktion und
die Bildung von Hypothesen über die Systematik und die Regeln rhetorischen
Sprechens zu sichern versucht (Allgemeine Rhetorik).
Rhetorik als praktische
Sozialtechnologie (Angewandte Rhetorik) widmet sich der Ausbildung, Übung und
Vervollkommnung wirkungsorientierten Sprechens und Verhaltens (Körpersprache,
Gesprächshaltung) und benutzt dazu das historisch entstandene System der
Regeln, Anleitungen und Gewohnheiten, die anwendungsbezogen von der Allgemeinen
Rhetorik entwickelt und formuliert worden sind. Sie bedient sich dabei auch der
Einsichten und Ergebnisse der Sprecherziehung und Sprechwissenschaft, die
traditionell einen Teil der Rhetorik und der rhetorischen Erziehung darstellen
und die mündliche Realisierung der Rede durch Sprechen sowie ihre mimische und
gestische Darstellung zum Gegenstand haben.
Das System der Rhetorik ist in
allen wesentlichen Zügen bereits in der Antike (Aristoteles, Cicero, Quintilian)
entwickelt worden und in dieser Form bis heute Grundlage der Allgemeinen und der
Angewandten Rhetorik. Die theoretischen Voraussetzungen fußen auf der
anthropologischen Annahme der Redefähigkeit als einer allgemein menschlichen
Naturanlage (natura), die durch Kunst und Wissen (ars, doctrina) sowie durch
Erfahrung und Übung (exercitatio) vervollkommnet werden kann. Der rhetorische
Unterricht besteht in der Aneignung des rhetorischen Wissens (doctrina), der
Nachahmung exemplarischer Vorbilder (imitatio) mit dem Ziel, sie zu übertreffen
(aemulatio), und der praktischen Einübung (declamatio).
II.
Die Produktionsstadien der Rede
Die fünf Produktionsstadien
der Rede (inventio, dispositio, elocutio, memoria, actio) bilden das wichtigste systematische Einteilungsprinzip der
Rhetorik. Diese Arbeitsschritte sind grundlegend für jede Art menschlicher
Kommunikation und regeln die Ausarbeitung eines Kommunikationsaktes vom
Auffinden der Gedanken bis zum medialen Vortrag.
-
Inventio: am
Anfang steht die Erkenntnis des Themas, seine Zuordnung zu einer der drei
klassischen Redegattungen (Gerichtsrede, Politische Rede, Festrede), und das
Auffinden aller zur wirkungsvollen Behandlung des Gegenstands nötigen Argumente
und Materialien. Zu deren Erforschung hat die Rhetorik ein eigenes
System von Suchkategorien (Topik) ausgebildet, die personen- oder problembezogen
alle möglichen Fundorte für Argumente, Beweise oder sonstige Belege erschließen.
-
Dispositio: im
zweiten Arbeitsstadium hat der Autor die Gliederung des Stoffes
festzulegen. Dabei bildet die Frage nach der Angemessenheit der Gliederung
der Sache und dem Publikum ein wichtiges Kriterium. Mit der Lehre von den vier
Redeteilen hat die Rhetorik systematische Hilfestellungen für diese Aufgabe
entwickelt. Die vier Redeteile bestehen aus Einleitung (exordium),
Darlegung des Sachverhalts (narratio), Argumentation und Beweisführung (argumentatio),
schließlich dem Redeschluß (conclusio, peroratio).
-
Elocutio: das
dritte Arbeitsstadium umfaßt
die sprachlich-stilistische Produktion der Rede. Die elocutio macht das differenzierteste Teilgebiet der
Rhetorik aus. Es umfaßt die Figuren und Tropen sowie den Wortgebrauch und
die Satzfügung, soweit diese nicht grammatischen, sondern
stilistisch-rhetorischen Zwecken dienen. Sprachrichtigkeit, Deutlichkeit,
Angemessenheit an Inhalt und Zweck der Rede, Redeschmuck und Vermeidung alles Überflüssigen
sind die obersten Stilqualitäten. Um allen Wirkungsintentionen zu entsprechen,
hat die Rhetorik zum Teil sehr komplizierte Stillehren entwickelt, doch allein
die wohl auf Theophrast zurückgehende Dreistillehre hat sich durchgesetzt und
beherrschte die Geschichte der europäischen Beredsamkeit und Literatur bis ins
19. Jh. Die Dreistillehre unterscheidet die schlichte, schmucklose, sowohl dem belehrenden
Zweck wie der alltäglichen Kommunikation angepaßte Redeweise von einer auf
Unterhaltung und Gewinnung der Zuhörer ausgerichteten Stilart, die sich des
Redeschmucks auf eine temperierte Weise bedient und eine sympathische Beziehung
zwischen Redner und Publikum herstellen soll; von diesen beiden abgesetzt wird
schließlich die großartige, pathetisch-erhabene Ausdrucksweise, die alle
rhetorischen Register zieht und die Zuhörer mitreißen will. Sie ist besonders
handlungsbezogen und zielt auf Entscheidung und praktische Veränderung aufgrund
der zuvor durch Darlegung und Argumentation erreichten Einstellungsveränderung
oder -sicherung.
-
Memoria: im
vierten Stadium konzentriert sich der Redner auf das Einprägen
der Rede ins Gedächtnis (memoria) mittels mnemotechnischer Regeln und
bildlicher Vorstellungshilfen.
-
Actio: das letzte Produktionsstadium besteht in
der Verwirklichung der Rede durch Vortrag (pronuntiatio), Mimik, Gestik und
sogar Handlungen (actio). Die
Rhetorik entwickelte eine ausgefeilte Sprechtechnik, Regeln zur körperlichen Beredsamkeit und in
neuerer Zeit eine Rhetorik der Präsentation und der medialen Darbietung. In
diesem letzten rhetorischen Arbeitsstadium liegt auch der Ursprungsort der
Schauspieler- und Theatertheorien sowie der "gesellschaftlichen
Beredsamkeit", wie A. v. Knigge seine Kunst des "Umgangs mit
Menschen" nannte.
Die Rhetorik ist im 5. Jh. v. Chr.
nach der Beseitigung der Tyrannenherrschaft in Syrakus und Athen entstanden, als
Interessengegensätze auf ökonomischem, politischem und rechtlichem Gebiet öffentlich
ausgetragen werden konnten. Ihre erste Blüte erlebte sie in der sophistischen
Aufklärung (Protagoras, Gorgias), die die Sprache endgültig aus dem mythischen
Denken befreite und die menschliche Rede zu einem rational brauchbaren und
universell einsetzbaren Instrument des gesellschaftlichen Lebens machte.
In
Platon, dessen Zerrbild der Sophistik bis heute nachwirkt, erwuchs der Rhetorik
ein wirkungsmächtiger Gegner, der sie als "Überredung",
"Scheinkunst" und "Schmeichelei" kritisierte und zur
Wahrheitserkenntnis für untauglich erklärte.
Rehabilitierung kam von dem
Platon-Schüler Aristoteles, der mit seiner "Rhetorik" das bis heute
folgenreichste Lehrbuch einer rhetorischen Argumentationstheorie schrieb und
ihre Aufgabe darin bestimmte, "nicht ... zu überreden, sondern zu
untersuchen, was an jeder Sache Glaubwürdiges vorhanden ist." Außerdem
wurde von Aristoteles die Rhetorik als gleichberechtigtes Gegenstück zur
philosophischen Dialektik behandelt, da beide es mit dem Ungewissen zu tun haben
und durch ihre Fähigkeit, "über Entgegengesetztes Schlüsse zu
bilden", strittige Sachverhalte im Für und Wider der Argumente zur
Entscheidung bringen können.
Von den römischen Rednern und Redetheoretikern
wurde die Rhetorik dann endgültig zu dem neben der Philosophie wirkungsmächtigsten
Bildungssystem der europäischen Geschichte umgestaltet. Während die nur anonym
überlieferte "Rhetorik an Herennius", das älteste erhaltene Lehrbuch
in lateinischer Sprache, allein die Produktionsstadien und Hauptgattungen der
Rede behandelt, ging Cicero in seinen rhetorischen Lehrschriften (De oratore,
Orator, Brutus) von einem wesentlich weiteren Rhetorikbegriff aus.
Cicero schuf die Grundlage für ein umfassendes
Lehrgebäude, in dem
Erziehung, Politik, Recht, Gesellschaftstheorie und Ethik zusammengeführt
wurden. Sein Ideal des "perfectus orator", der die Redekunst auf der
Grundlage einer umfassenden Allgemeinbildung mit moralischem Verantwortungsbewußtsein
ausübt und ein "vir bonus", ein guter Mensch, sein soll, beeinflußt
die Persönlichkeitsideale westlicher Kulturen bis zum heutigen Tage.
Quintilians umfangreiches Lehrbuch
"Die Ausbildung des Redners" (Institutio oratoria), ein
Kompendium, das die Rhetorik als regina artis, als Königin aller Künste und
Wissenschaften, inthronisierte, avancierte zum maßgebenden Standardwerk der
europäischen Rhetorik. Quintilian faßt das rhetorische Wissen der Antike
zusammen, entwickelt Modelle zur moralischen Bewertung des Redners und
betont die Bedeutung des menschlichen Urteilsvermögens für den
rhetorischen Erfolg.
Das christliche Mittelalter rezipierte die Rhetorik nach
anfänglichem Zögern (bahnbrechend: Augustinus' "De doctrina christiana")
und eignete sich das rhetorische Wissen für die Bibelauslegung und Predigtlehre
an, womit den bisherigen drei klassischen eine weitere Redegattung hinzugefügt
und mit der Homiletik ein neuer rhetorischer Theoriebereich geschaffen wurde. In
den Schulen wurden die sieben freien Künste gelehrt, wobei der Rhetorik neben
Grammatik und Dialektik grundlegende Bedeutung zukam.
Renaissance und Humanismus
brachten der Rhetorik neue Höhepunkte an Geltung und Machtausbreitung, die
Philosophie ging zeitweise in ihr auf, sie beherrschte Schul- und Universitätsbetrieb,
Literatur und Architektur, Hof- und Gerichtswesen, gesellschaftliches Leben,
Kirche und Theologie; historisches und philologisches Bewußtsein und die allgemeine
Verweltlichung der Wissenschaften und des Lebens waren unmittelbare Folgen der
neuen Rhetorik-Rezeption, die dann auch in die höfische Kultur aufgenommen
wurde und das barocke Zeitalter besonders hinsichtlich seiner Schmuck- und
Prachtentfaltung geprägt hat.
Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts
brachte die
Nationalisierung der bisher lateinischsprachigen Rhetorik in allen europäischen
Ländern. Es entstand eine Fülle neuer, muttersprachlicher Lehrbücher, auch die
Terminologie veränderte sich, in Deutschland z. B. festigte sich der
Sprachgebrauch "Beredsamkeit" (oder "Eloquenz") für die
Praxis und "Redekunst" (oder "Rhetorik") für die Theorie
der Rede. Anknüpfend an die antiken Briefautoren (Plinius) und die
humanistische ars dictandi (Briefkunst) weiterführend, etablierte sich der
Brief als eigenständige rhetorische Gattung und der "Briefsteller"
(Gellert) als ihre Theorie. Auch die Poetik, seit der Antike (Horaz) zur
rhetorischen Domäne gehörend, blieb weiter unter dem Einfluß der Rhetorik
(Pope, Boileau, Gottsched).
Eine neue politische Dimension
gewann die Rhetorik
bei der Vorbereitung und nach dem Ausbruch der Französischen Revolution, direkt
als politische Beredsamkeit oder durch die Entwicklung einer kritischen bürgerlichen
Publizistik. Mit dem Ende des 18. Jh.s begann aber auch der Verfall der Rhetorik
als Folge komplizierter, bis heute nicht ganz erhellter Vorgänge wie der
politisch restaurativen Entwicklung, der Entstehung neuer konkurrierender
Wissenschaften (Ästhetik, Psychologie, Germanistik, Pädagogik) und einer
allgemeinen Kultur der Innerlichkeit. Einzelne Gegenstimmen wie die Nietzsches
änderten daran nichts.
IV.
Gegenwart
Der Niedergang der Rhetorik als
wissenschaftliche Disziplin (als Redepraxis blieb sie erhalten) ist in allen
Nationalkulturen seit den 30er Jahren des 19. Jh.s zu verzeichnen, zeigte aber
in keiner so durchschlagende und anhaltende Wirkung wie in Deutschland, wo der
Anschluß an eine seit Beginn des 20. Jh.s besonders in den USA einsetzende,
inzwischen lebhafte internationale Forschung erst seit etwa 1960 gelungen ist. Der wachsende Anspruch einer mündigen Gesellschaft auf Information und die
Durchsichtigkeit aller Entscheidungsprozesse erzeugten einen zunehmenden Bedarf
an Rhetorik in sämtlichen Bereichen der Wissenschaft.
Die Vielfalt der Rezeption
der Rhetorik, die sich inzwischen abzeichnet, gerät
schon wieder in Gefahr, unübersichtlich zu werden, doch lassen
sich deutlich fünf Tendenzen der neueren Forschung unterscheiden:
-
die literaturwissenschaftliche
Adaption der historischen Topik (Curtius), der rhetorischen Textinterpretation
(Lausberg) und der Figurenlehre (Dubois, Plett);
-
die Wiederbelebung der
rhetorischen Argumentationstheorie in der Jurisprudenz (Viehweg, Haft) und
Philosophie (Perelman, M. Meyer) sowie in der hermeneutischen Diskussion (Gadamer,
Habermas, Blumenberg);
-
die Entwicklung einer Rhetorik der Massenmedien und der
Werbung mit psychologischem Schwerpunkt ("New Rhetoric" in den USA);
-
die Wiederherstellung der traditionell fächerübergreifenden Konzeption der
Rhetorik in ihrem umfassenden Verständnis als Bildungssystem wie auch
gleichzeitig als Theorie wirkungsbezogener menschlicher Kommunikation, die in
der Angewandten Rhetorik ihre Praxis findet ("Tübinger Rhetorik");
-
das breite Feld der Populär-Rhetorik, z. B. Verkäuferschulung,
Manager-Training, die meist auf niedrigem wissenschaftlichem Niveau
rhetorische Sozialtechnologie betreiben.
-
Gert Ueding und Bernd Steinbrink: Grundriß
der Rhetorik. Geschichte - Technik - Methode. Stuttgart: Metzler, 1986. 3.,
überarbeitete und erweiterte Auflage Stuttgart, Weimar: Metzler, 1994.
-
Gert
Ueding: Klassische Rhetorik (= Beck'sche Reihe Wissen). München: C.
H. Beck, 3. Auflage 2000.
-
Gert
Ueding: Moderne Rhetorik. Von der
Aufklräeung bis zur Gegenwart (= Beck'sche Reihe Wissen). München:
C. H. Beck, 2000.
-
Historisches
Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding u. a. Mitbegründet von
Walter Jens. Tübingen: Niemeyer, 1992ff.
-
Joachim
Knape: Was ist Rhetorik? Stuttgart 2000 (= Reclams UB).
-
Joachim Knape: Allgemeine
Rhetorik. Stationen der Theoriegeschichte. Stuttgart 2000 (= Reclams UB).
-
Manfred
Fuhrmann: Die antike Rhetorik. 4. Auflage. München 1995.
-
Theresa
Enos: Encyclopaedia of Rhetoric and Composition. Communication from Ancient
Times to the Information Age. New York, NY1996.
-
John
Louis Lucaites et al. (Hrsg.):
Contemporary Rhetorical Theory. A
Reader. New
York, NY 1998.
-
Heinrich Lausberg: Handbuch der
literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 3.
Auflage. Stuttgart 1990.
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Rhetorik
ist ein zusammenfassender Begriff für die Theorie und Praxis der
menschlichen Beredsamkeit in allen öffentlichen und privaten Angelegenheiten,
ob sie in mündlicher, schriftlicher oder durch die technischen Medien (Film,
Fernsehen, Internet) vermittelter Form auftritt.
Die
Rhetorik begreift die Redefähigkeit als eine Naturanlage des Menschen
(natura), die durch Kunst und Wissen (ars und doctrina) sowie durch
Erfahrung und Übung (exercitatio) vervollkommnet werden kann.
Fünf
Arbeitsschritte erwiesen sich im Laufe der Geschichte der Rhetorik als
grundlegend für die Vorbereitung von Kommunikation, egal ob
diese in Rede oder Schrift oder gar in neuen Medien wie Fernsehen und
Internet ablaufen soll.
1.
inventio: das Auffinden der Gedanken
2.
dispositio:
das Anordnen der Gedanken
3.
elocutio: die sprachliche Ausgestaltung der Gedanken
4.
memoria: das Vertrautwerden mit dem ausformulierten Material
5.
actio: die Realisierung des Kommunikationsaktes durch mediale Präsentation
"nicht ... zu überreden, sondern zu
untersuchen, was an jeder Sache Glaubwürdiges vorhanden ist", heißt die
Hauptaufgabe der Rhetorik bei Aristoteles.
Cicero
und Quintilian bilden die Rhetorik zu einem umfassenden Bildungssystem
aus, das bis heute die westliche Kultur beeinflußt.
Seit
den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts kam es auch in Deutschland zu einer neuen Blüte der
Rhetorik. Literaturwissenschaft, Philosophie und Sozialwissenschaft
entdeckten ihr Interesse an der Rhetorik.
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