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Jenseits von Gut und Böse

Vom Recht des Stärkeren oder Kein Ende des Darwinismus

Alle natürlichen Systeme sind Räuber-Beute-Gesellschaften, beginnend beim Universum bis hin zur sozialen Lebensgemeinschaft. Überall dort, wo einer auf Kosten des anderen lebt, weil er Nahrung braucht oder um sein Leben zu erhalten Materie in sich aufnehmen sprich dem Organismus Kalorien zuführen muß, trifft man diese Form der Wechselbeziehung an. Jedoch, ein System mit nur einem Räuber und einer einzigen Beute ist eine absolute Seltenheit in der Natur, denn meist hat ein Räuber mehrere Beutearten und ist auch selbst wieder Beute von anderen. Im Krieg treten Räuber und Beute in einer Person auf, die beiden Systeme sind gekoppelt. Und der Räuber ist nur scheinbar immer der Stärkere, denn diese Hierarchie gilt nicht mehr, wenn die Beute zur Neige geht. Dann sterben die Stärkeren, das sind die Räuber, ebenfalls aus, bis sich die Beutepopulation wieder erholt hat und die Räuber nach einer mehr oder weniger kurzen Verschnaufpause wieder aufatmen können. Der Darwinismus, d.h. das Überleben des am besten Angepaßten, gilt also in der Natur nur für das isoliert betrachtete Ereignis, nicht aber universell. Überhaupt erscheint die Darwinsche These unter diesem Aspekt in einem völlig neuen Licht. 

Einen Sonderfall, bei dem beide Räuber und Beute zugleich sind, ohne daß sie sich gegenseitig schaden, stellt die Symbiose dar, weil beide etwas haben, was der andere braucht. Ein Beispiel hierfür ist die Liebe, in der beide sich nichts Böses tun oder Geben und Nehmen sich die Waage halten. Die Prozesse, bei denen einer den anderen auffrißt wobei der Mensch keine Ausnahme darstellt und wobei Energie bzw. Masse von einer Wesenheit auf die andere übergeht, z.B. in Form von Materieaustausch durch ständiges Inkrementieren und Exkrementieren, nennt man »böse«. Auch das Ausreißen und Abernten von Pflanzen sowie ihr Verzehr sind ihrer Natur nach böse, weil dadurch anderes Leben ausgelöscht wird. Für den Räuber wiederum sind diese Handlungen gut, weil sein Leben dadurch erhalten bleibt oder überhaupt erst möglich wird. Die Symbiose kann zur Definition des Guten herangezogen werden, welches nur eine idealisierte Räuber-Beute-Beziehung ist. Dahinter steckt nichts Göttliches, dafür aber sehr viel Natürliches, zumal das Universum selbst als Räuber-Beute-Beziehung verstanden werden kann, auch wenn wir es hierbei mit keiner Wesenheit zu tun haben, es sei denn, man setzt das Universum Gott gleich, wie es Baruch de Spinoza mit seinem Pantheismus getan hat. Die sichtbare Materie steht hierbei im Überlebenskampf mit der dunklen Materie, die sich in den Schwarzen Löchern verbirgt. Beide zusammen sind gleich der Gesamtenergie des Universums und können weder erzeugt noch vernichtet, sondern lediglich ineinander umgewandelt werden. Während alle sichtbare Materie von Schwarzen Löchern verschluckt zu werden droht, sobald die Gravitationsfalle zuschnappt, entsteht Materie permanent neu, weil sämtliche Schwarzen Löcher in endlicher Zeit zerfallen und ihre Energie wieder freisetzen. Dadurch, daß das Universum eine Wiedergeburt erfährt, besteht auch keine Veranlassung zu glauben, daß es irgendwann ein erstes Mal entstanden ist. Die »Nahrungsgrundlage« in diesem Räuber-Beute-System, um die sich der »Streit« entfacht, ist die vierdimensionale Raumzeit.

Es gibt aber auch konkretere Systeme, die vielleicht vordergründig symbiotisch erscheinen, aber genauer unter die Lupe genommen doch dem »Stärkeren« zum Nachteil gereichen. Dieser im darwinistischen Sinne Überlegene ist individuell leicht auszumachen, es ist der in einem Vergleich besser Abschneidende. Für das Populationswachstum ist aber nicht entscheidend, ob der Einzelne sich besser oder weniger gut fortpflanzen kann, weil das Aussterben durch ganz andere Umstände droht. Wir reden hier bereits über anthropogene Eingriffe in die Evolution.

Ein Beispiel: Kluge und weniger Kluge bilden ein Räuber-Beute-System. Dabei sind die Unklugen die Räuber, die Intelligenten die Beute. Normalerweise, möchte man meinen, sind die Intelligenten besser für das Leben geeignet. In sozialen Systemen wird der Spieß aber oft umgedreht, indem z.B. geistige Leistungen nicht genügend honoriert werden und dem weniger Begabten sich dadurch vergleichbare oder sogar bessere Berufssaussichten bieten. (Bankiers und Geschäftsleute verdienen aufgrund staatlicher Subventionen und obwohl sie nicht viel können müssen häufig mehr als jeder Studierte, der sich im Angestelltenverhältnis befindet.) Der Kluge wird dem Unklugen somit gleichgestellt und ist ihm nicht mehr überlegen, er muß das Lager wechseln und selbst zum Räuber werden. Die Beutepopulation, d.h. die Klugen, nehmen dadurch stark ab, weil es keinen Ansporn mehr gibt, einen klugen Beruf zu ergreifen. Die Räuber, d.h. die weniger Gescheiten, können sich besser vermehren als die Klugen, die allmählich aussterben, weil es nichts gibt, was sie noch am Leben erhält. Wer noch unter der Beute verblieben ist, der muß wirklich zu den sehr Guten gehören, denn das Intelligenzniveau wird scheinbar immer weiter angehoben, um als solches noch Bestand zu haben. Wenn die Klugen allerdings dramatisch abnehmen, werden geistige Leistungen irgendwann wieder stärker gefragt sein und entsprechende Berufe auch wieder besser bezahlt werden, so daß die Klugen Aussicht haben, an Zahl zuzulegen. Dann haben die Unklugen für eine Weile das Nachsehen, bis der Neidprozeß den Vorgang umkehrt und es wieder zu einer Zurückdrängung der Intelligenten kommt.

Ein weiteres Beispiel: Industriebevölkerung/Migrantenpopulation. Die Räuber stellen hierbei die Migranten dar, Beute ist die Industriebevölkerung, Nahrungsangebot sind Arbeitsplätze und Versorgungsleistungen. Der Wohlstand in den Industrieländern führt zu mehr Wirtschaftswachstum mit steigendem Arbeitsplatzangebot. Dies ruft eine Einwanderungswelle in Richtung Industrieländer hervor, die so lange nicht abebbt, solange die Ankömmlinge sprich Räuber von der Industriebevölkerung mit Arbeit und Sozialleistungen versorgt werden. Die Bevölkerung in den Industrieländern wird für den Rest der Welt zur fetten Beute, da sie die Versorgungsleistungen aufbringen muß, und entwickelt sich im Echo rückläufig.

Ein drittes Beispiel: Die demographische Entwicklung mit den Alten als Räubern und den Jungen als Beute. Ressourcen sind das Einkommen der Jungen bzw. vom Staat gebildete Rücklagen, etwa in Form von Renten. Der demographische Alterungsprozeß hat zu einer steigenden Zahl von Rentnern geführt, die Erwerbslosen gleichgestellt und aus Rücklagen finanziert werden müssen, sei es nun durch eigenes Einkommen oder mittels der von der Solidargemeinschaft eingezahlten Leistungen. Durch den demographischen Wandel und den dadurch bedingten starken Anstieg des Durchschnittsalters erschöpfen sich diese Rücklagen jedoch schnell, so daß die leeren Töpfe von den Jungen nicht mehr zügig genug aufgefüllt werden können. Solange sich die Solidargemeinschaft zur Vermeidung leerer Kassen aber immer weiter verschuldet, nehmen auch die Alten immer mehr zu. Die Zahl der Jungen hingegen geht bei steigender Lebenserwartung immer weiter zurück, bis sie die daraus erwachsende Last irgendwann nicht mehr tragen können. Dann wird sich auch die Zahl der Räuber sprich Alten zurückbilden. Es gäbe noch viele solcher Beispiele, aber wir wollen es mit einem letzten bewenden lassen.

Als dieses wählen wir den Arbeitsmarkt, bestehend aus solchen, die Arbeit haben, und anderen, die keine haben, weil sie arbeitslos oder arbeitsscheu sind. Die Nahrungsgrundlage stellen in diesem System die Jobs dar, die Beute ist die Gruppe der Arbeitenden und die Räuber sind die Arbeitssuchenden bzw. Arbeitslosen. Natürlich kann keiner der Arbeitslosen einem Arbeitenden die Arbeit wegnehmen, aber er kann ihm den Job abjagen, indem er für weniger Geld arbeitet. Außerdem verringert der Arbeitslose dem Arbeitenden die gesetzlichen Versicherungsleistungen, weil er ja in einem Sozialstaat unweigerlich mitgefüttert werden muß. Würde der, der einen Job hat, die Früchte seiner Arbeit nicht mit dem, der keinen hat, teilen, würde er von letzterem auf andere Weise ausgeraubt. Der Grund, warum es Arbeitslosigkeit gibt, liegt darin, daß bezahlte Arbeit an Besitz gekoppelt und Besitz wie alles begrenzt ist. Nur wer mehr hat, als er braucht, kann andere beschäftigen. Eine Scholle kann nicht beliebig viele Menschen ernähren, und jeder kann nur begrenzt Erträge erwirtschaften. Es findet daher ein Verdrängungswettbewerb aus dem Arbeitsleben statt, auch ohne daß jemand dabei gefressen werden muß. Die Habenichtse und Nichtskönner fallen der Gesellschaft zunehmend zur Last, denn sie fressen die Qualifizierten und Arbeitssamen auf, wenngleich auf andere Weise. Eine Gesellschaft, die auf hohem Niveau überleben will, wird sich daher überlegen müssen, wie sie künftig mit ihren Unproduktiven umgeht.

Wo bleibt nun der Einzelne in einem System, in dem es auf Individualität offenbar nicht mehr ankommt? Trotz persönlicher Stärke und Überlegenheit kann beim Menschen eine Evolution scheinbar nicht mehr geltend gemacht werden, ja das Individuum muß sogar die Seite wechseln, von der Beute zum Räuber überschwenken, sofern das spezielle System dies überhaupt erlaubt. Der Einzelne kann sich in dieser Umgebung trotz bester persönlicher Voraussetzungen nicht mehr individuell behaupten, und auch im Rahmen seiner Zugehörigkeit entweder zur Partei der Räuber oder zur Beute allenfalls noch kollektiv, und auch das nur über einen begrenzten Zeitraum, bis die andere Partei das Sagen übernimmt. Ein mehr als nur vorübergehendes Ende dieses Prozesses ist langfristig nicht abzusehen, weil es nicht in der Natur der Dinge liegt, dem Einzelwesen Bedeutung beizumessen. Es gibt im Räuber-Beute-System den berühmten absteigenden Ast. Auf Zeiten des Aufschwungs folgen Phasen des Niedergangs, und keiner kann sagen, wer in diesem Auf und Ab Sieger sein wird. Jede noch so hochstehende Art oder Zivilisation kann einfach aussterben auch der Mensch. Und in der Tat tritt dieser Fall gar nicht so selten auf. Die Evolution zieht scheinbar am Menschen vorbei.

 

 

Copyright © 2012, Manfred Hiebl. Alle Rechte vorbehalten.