Anthropologische
Begründung der Ethik
Wie für das Schöne und Wahre hat der Homo
sapiens auch ein Bewußtsein für das Gute entwickelt. Schon in der Bibel
heißt es, daß der Mensch aus dem Paradies vertrieben wurde, weil er zwischen
Gut und Böse unterscheiden konnte. Das Tier, welches allein seinem Instinkt
gehorcht, vermag die Schlechtigkeit seines Tuns nicht einzusehen. Denn auch
Tiere töten keineswegs nur aus Hunger, sondern teils auch aus Lust. Katzen
etwa spielen noch lange und genußvoll mit ihrer Beute, ehe sie sie totbeißen.
Aber auch untereinander kennen Tiere keinerlei Rücksicht. So frißt
beispielsweise der männliche Löwe zuerst, und erst, wenn er satt ist,
fressen die Weibchen und Jungen. Ein soziales Verhalten, das von der
Einsicht getragen wäre, daß die anderen denselben Hunger haben, kennt das
Tier nicht. Ihnen gilt: Wer den Nachwuchs zeugt, ist das wertvollste Glied
der Familie. Denn ein Männchen kann theoretisch so viele Junge zeugen, wie
es befruchtungsfähige Weibchen gibt, ein Weibchen hingegen während einer
Schwangerschaft nur jeweils eines austragen. Allenfalls bei den Primaten wird
die Beute zwischen Männchen und Weibchen geteilt, aber auch das nicht ohne
Hintergedanken, denn das Männchen bekommt als Gegenleistung für seine
Freigebigkeit häufiger Sex. Etwas Uneigennütziges gibt es in der Natur
nicht, ebensowenig wie beim Menschen, irgendein Tauschhandel bzw. eine
Symbiose − das können auch immaterielle Güter sein − findet immer statt. So
erwartet denn der Aufopferungsvolle und Hilfsbereite irgendeine Form des
Danks oder erhofft sich ein Lob, und sei es nur klammheimlich von Gott. Allein, die Menschen durchschauen ihre
eigenen Instinkte oftmals nicht und sind zudem abergläubisch. Insofern ist
Ethik nichts, was den Menschen über das Tier erhebt, und sie ist gewiß keine
göttliche Prüfung, anhand der sich feststellen ließe, wer für das ewige
Leben auserkoren ist und wer nicht.
Die Ethik war im Laufe der Evolution dem
Menschen lediglich zu seinem Überleben dienlich, denn sonst gäbe es seine
Spezies wahrscheinlich nicht. Wer ausscherte und dagegen verstieß, indem er
die Gesetze übertrat, im schlimmsten Fall ein Verbrechen beging, wurde von
der Allgemeinheit ausgestoßen und bestraft, bis in die jüngste Zeit sogar mit dem Tode. Wären Verbrecher nicht hingerichtet und aus
dem Verkehr gezogen worden, hätte sich die Menschheit vermutlich schon längst
selbst ausgerottet. Nur der Sinn für das Gute läßt uns das Böse erst
erkennen, denn letzteres ist der natürliche Zustand. Der Kampf ums Überleben
zwingt uns manchmal sogar dazu, böse zu sein, denn sonst würden sich unsere
Rivalen durchsetzen, und wir hätten das Nachsehen.
Bei den höheren Primaten ist das
Kräftegleichgewicht im Gegensatz zu den meisten anderen Arten zugunsten der
Horde verschoben, d.h. nicht der einzelne gilt als stark, sondern wer die
stärkste Partei hinter sich hat. Der Stärkere legt auch fest, was gut und
böse ist. In dem Zusammenhang ist stets schlecht, was der Mehrheit schadet.
Ihrem Wesen nach jedoch ist gemäß dem Verständnis der Ethik all das böse,
was einem anderen Nachteile einbringt oder Leid zufügt. Dies kollidiert
sofort mit dem Recht des Stärkeren, speziell wenn der Stärkere in der
Minderzahl ist. Objektiv gesehen ist nämlich der Benachteiligte stets der,
gegen den sich die Ethik verschworen hat. Insofern kann es die einzig wahre
Ethik schon aus dem Grunde nicht geben, daß sich die Natur stets selbst treu
bleibt, d.h. sie kann ihre eigenen Regeln trotz allen menschlichen Zutuns
niemals verletzen. Also ist Ethik eine biologische Notwendigkeit. Daher
gilt: Was dem Überleben der Art hilft, ist naturgemäß als ethisch zu
bezeichnen, so sehr der einzelne auch darunter leiden mag. Im sexuellen
Bereich wäre demnach sogar der Sado-Masochismus ethisch: Die Schläge, die
der eine verabreicht, empfindet der andere als angenehm, wobei der Nutzen
für die Natur darin liegt, daß Schläge gefügig machen.
Wenn wir uns nun auf
den Standpunkt stellen, daß Ethik etwas biologisch Nützliches sei, weil sie
der Arterhaltung dient, so haben wir diese philosophische Disziplin aus den
Geisteswissenschaften herausgelöst und in den Bereich der
Naturwissenschaften verwiesen.
»Homo homini
lupus«,
der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, sagt der englische Philosoph Thomas
Hobbes, und darin liegt sehr viel Wahres. Stelle ich mich mit meinem
Nachbarn gut, muß ich nichts Schlimmes von ihm befürchten, ebensowenig wie
er Angst vor mir zu haben braucht. In gleicher Weise kann der einzelne auch
mit der gesamten Gesellschaft einen Vertrag schließen, den sogenannten
Gesellschafts-vertrag, wie Rousseau ihn beschrieben hat. Einigen wir uns
darauf, daß wir uns gegenseitig nicht behelligen, und lösen wir über
Gesetze, zu denen wir uns gemeinsam bekunden, den Konflikt widerstreitender
Interessen. Tiere können einen solchen Vertrag nicht eingehen, sie
unterliegen jedoch den gleichen biologischen Auseinandersetzungen wie der
Mensch: Kampf um Nahrung und den Sexualpartner.
Viel interessanter noch ist die Frage, in
welcher Weise nun die Evolution von der Ethik profitiert, wo doch das Böse
sich meistens durchsetzt. Der Starke gilt ja in einer anti-darwinistischen
Gesellschaft definitionsgemäß als der Böse, der Schwache hingegen ist immer
der Gute. Der Böse ist zugleich der Ungeliebte, und der Ungeliebte kommt
seltener zur Fortpflanzung als der Geliebte. Nur wo absolute Triebhaftigkeit
den Ausschlag gibt, kommen schlechte Charaktere auch zum Zuge, etwa bei
einer Vergewaltigung. Das Böse stirbt demnach niemals aus, folglich muß es
sich wie ein Gen rezessiv vererben. Dabei wird das Böse
sicherlich nicht als Einzelmerkmal weitergegeben, sondern es sind vermutlich eine ganze
Reihe tief egoistischer Züge in uns wie Habsucht, Eifersucht, Neid,
Verachtung,
Mißgunst, Rechthaberei,
Rücksichts-losigkeit, Eitelkeit, Grausamkeit, Rachsucht u.v.a.,
die einen Menschen Böses tun und denken lassen.
Aber auch Furcht und falsch verstandene Liebe können Böses bewirken.
Alle Bosheit führt zum
Streit, und nichts verbindet weniger als unüberbrückbare Differenzen.
Was
wir also ganz deutlich erkennen können ist, daß Bosheit stets eine
Gefühls-reaktion als Ursache hat, sofern sie nicht aus Versehen oder Ignoranz
und somit aus Vorsatz geschieht. Das Tun und Denken des Menschen ist ja
meist von Gefühlen ausgelöst oder begleitet, und diese sind hinsichtlich des
Grades und der Intensität ihres Auftretens so unterschiedlich wie die
Menschen selbst. Während einige beispielsweise von Eifersucht nahezu
zerfressen werden, kennen andere dieses Gefühl überhaupt nicht. Während die
einen unter Minderwertigkeitsgefühlen leiden, strotzen andere nur so vor
Selbstbewußtsein, und das trotz gleicher objektiver Mängel. Einige zeigen
sich nackt, obwohl sie sich schämen müßten. Während man die einen vor Stolz
nicht anzusprechen wagt, verkaufen sich andere an jeder Ecke. Alle diese
mentalen Unterschiede sind im wesentlichen erblich bedingt, und der Geist
handelt entsprechend. Gefühle lassen sich nicht anerziehen, sondern setzen
eine genetisch bedingte Bereitschaft für ihr Auftreten voraus. Ob wir in
einer bestimmten Situation zum Guten oder Bösen tendieren, ist in unseren
Genen verankert. Die dafür ursächlichen Enzyme werden von den jeweils dafür
zuständigen Genen produziert, und diese sind, wie bei anderen Merkmalen
auch, in vielen Fällen polymorph, was zugleich unsere psychische
Variabilität begründet. Wir reagieren trotz weitgehend ähnlicher
Schlüsselerlebnisse auf unsere Umwelt recht unterschiedlich. Die Reaktionen
verschiedener Testpersonen werden auf gleiche Reize niemals gleich
ausfallen, für welches Phänomen die Anhänger der Theorie von den
Umwelteinflüssen keine Erklärung haben.
Der Mensch ist also von Grund auf böse
und hätte seinen Raubtiercharakter vermutlich noch gesteigert, wenn er nicht
vermöge der Evolution das Gute als nutzbringend für sich erkannt hätte.
Daß Kinder
im frühkindlichen Entwicklungs-stadium noch nicht böse sind, liegt daran,
daß ihre hormonelle Steuerung noch nicht vollends ausgeprägt ist. Das Böse
erwacht im Menschen erst allmählich mit Herannahen des geschlechtsreifen
Alters, obwohl auch Kinder bereits Zorn und störrisches Verhalten als Mittel
zur Durchsetzung ihrer Ziele sowie Demütigung und die üblichen seelischen
Grausamkeiten als Waffe einsetzen.
Zu sehr mutierte
menschliche Bestien wurden bis in die jüngste Vergangenheit durch eine
entsprechende Verbre-chensbekämpfung konsequent eliminiert, daher sind alle
heute lebenden Menschen in bezug auf Ethik immer noch gut vorselektiert.
Doch das könnte sich schon bald ändern, denn durch die Abschaffung
der Todesstrafe und die relativ kurzen Strafverbü-ßungszeiten geraten die
degeneriertem Gene wieder verstärkt in Umlauf, was langfristig zu einer
Anreicherung verbrecherischer Erbanlagen führt. Besonders jene Vorfälle vor
allem unter Jugendlichen, die einen erstaunlichen Mangel an
Einfühlungs-vermögen ihren Opfern gegenüber zeigen und somit eine besondere
Verrohung erkennen lassen, bereiten Anlaß zur Sorge und lassen auf ein
Wiederaufkeimen schon beinah ausgerotteten Erbguts schließen, eine
Entwicklung, welcher die modernen Gesellschaften machtlos gegenüberstehen.
Viele von diesen haben das Recht auf Leben in ihren Verfassungen verankert,
auch Verbrechern gegenüber, was nicht nur politisch, sondern auch genetisch
einen Irrweg darstellt, denn ererbte Abartigkeiten lassen sich nur
ausrotten, eindämmen kann man sie aufgrund der Mendelschen Regeln nicht. Man
darf sich diese „verbrecherischen“ Gene natürlich nicht so vorstellen, daß
man sie irgendwo auf der DNA finden würde, denn sie verbergen sich in
unseren Trieben, deren Gefühlsausprägung genetisch gesteuert wird und von
Mensch zu Mensch verschieden ist. So empfindet beispielsweise ein Lustmörder
während seiner Freveltat nicht das nötige Mitleid, welches ihn zügeln würde, und
genau das macht ihn zum Täter, eine Unausgewogenheit der inneren Sekretion.
Diese Störung ist genetisch bedingt, und nicht rein zufällig.
Was nun im Laufe der Evolution auf
zahlenmäßig schwache Gruppen bezogen einen Überlebensvorteil bedeutet haben
mag, muß diesen nicht notwendig auch in exponentiell stark angestiegenen
Populationen besitzen. Erblich erworbenes soziales Empfinden läßt sich nicht
einfach wieder abstellen. Zudem trägt Ethik die Brille der Kurzsichtigkeit.
Sie ist stets nur auf das unmittelbar vor Augen Geführte gerichtet,
Ungeborenes und Nachgeborenes werden von ihr nur selten wahrgenommen. So wird
speziell dem ungeborenen Leben von der Gesellschaft nicht der gebührende
Respekt gezollt, ebensowenig wie an die Tierwelt oder künftige Generationen
gedacht wird. Auch die moderne Medizin besitzt einen erstaunlichen Mangel an
Einfühlungsvermögen für die Leiden derer, die mit Erbkrankheiten belastet
geboren werden, weil für ihre Erzeuger alles nur Erdenkliche getan wurde,
damit sie sich auch ja fortpflanzen konnten, obwohl ihnen von Natur aus die
Möglichkeit dazu genommen oder ein vorzeitiger Tod beschieden gewesen wäre.
Stets legen doch diejenigen mit den auffallendsten Organminderwertigkeiten
den größten Wert darauf, daß sie diese an ihre Nachkommenschaft weitergeben
können. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Diabetiker, Allergiker,
Brillenträger oder einfach nur um mißgestaltete Menschen handelt, denen
eigentlich bekannt sein müßte, daß sich ihre Eigenschaften in den
Folgegenerationen definitiv wiederfinden werden und die so Gezeugten
aufgrund ihrer Behinderung im schlimmsten Falle der Allgemeinheit zur Last
fallen. Es kann also weder ethisch noch sinnvoll sein, solche Menschen in
ihrem Handeln noch zu bestärken. Gleiches gilt für diejenigen, die heute aus
Eigennutz und Bequemlichkeit ihre Umwelt in großem Stile zerstören und denen
völlig egal ist, mit welchen Einschränkungen künftige Generationen wegen
ihres persönlichen Egoismus vorlieb nehmen müssen. Wer also vorgeblich zum Wohle seiner
Zeitgenossen handelt, tut dies nicht notwendig auch an seinen Nachfahren,
egal ob er abtreibt, kranke Gene weitergibt oder eine zerstörte Umwelt
hinterläßt.
Ethik läßt sich nicht dadurch rechtfertigen, daß man dem einen
gibt, was man dem anderen wieder nehmen muß. Insofern führen alle
karitativen und seelsorgerischen Einrichtungen nur zu unendlich viel
größerem Leid, weil Mitleid aus Mangel an Sachverstand Schäden nicht
begrenzen, sondern umgekehrt noch ausweiten hilft. Dies führt uns zu der
Erkenntnis, daß die genetisch in uns verankerten moralischen Gesetze sich im
Stadium einer fortgeschrittenen zivilisatorischen Entwicklung biologisch nur
noch negativ auf uns auswirken. Da der Mensch indes für die Grausamkeit
der unterlassenen Hilfeleistung nicht geschaffen ist, gereicht ihm sein
ethisches Gen irgendwann selbst zum Nachteil.
Alle modernen Sozialstaaten glauben nämlich,
ihre Rechtfertigung nur darin zu erfahren, daß sie den Menschen Gutes tun,
und richten folglich einen riesigen, nicht wiedergutzumachenden Schaden an.
Möchte indes einer etwas daran ändern, reicht der einfache Appell an die
menschliche Schlechtigkeit, und die Entscheidungsträger fallen um. Derart
stark ist die Ethik in unserer Psyche verankert. Sie fällt damit noch
stärker in den Bereich des Psychologischen als des Philosophischen, welches
das Gute im Rahmen der Vernunft und damit des Rationalen zu begründen
versucht.
Die hier gegebene
Begründung hingegen ist anthropologischer Natur und betrachtet Ethik
hinsichtlich ihrer Auswirkungen als einen zunehmend degenerativen
Selektions-prozeß. Diese Interpretation läßt auch den umgekehrten Schluß zu,
daß nämlich ethische Normen
− freilich erst im Laufe
zahlreicher Generationen − auch wieder verschwinden können, sobald sie dem
Überleben nicht mehr förderlich sind. Rapide sich wandelnde äußere
Rahmenbedingungen können aber selektiv nicht schnell genug aufgefangen
werden, so daß die Gefahr besteht, daß Populationen, die allzusehr
altruistisch denken, früher aussterben als egoistische. Allerdings bergen
auch die egoistischen Gefüge die Gefahr der Instabilität, so daß es ganz
danach aussieht, als würden Gemeinschaften mit dem Bewußtsein einer engeren
Verbundenheit den höchsten Grad an Überlebensfähigkeit besitzen. Damit redet
man aber den Nationalstaaten das Wort, die sich durch eine gemeinsame
Sprache, Kultur und Tradition am besten bewährt haben. In ihnen kommen Ethik
im Umgang mit sich selbst und Intoleranz gegen andere am meisten zur
Geltung.
Ohne das Bewußtsein, daß
Ethik nicht gegen jedermann geübt werden kann, wie es die kirchliche
Ideologie vorschreibt, geht jede höhere Gemeinschaft zugrunde. Die Maxime
»Alle Menschen werden Brüder«, wie es in Beethovens Ode »An die Freude«
heißt, spiegelt sich nicht im menschlichen Stammbaum wieder, wonach die
ältesten Haplogruppen am meisten vom Aussterben bedroht sind. Letztere
kommen in größerer Häufigkeit fast ausnahmslos nur noch unter den Naturvölkern
vor. Daß Ethik also von keinem rein geistigen Prinzip durchdrungen sein
kann, erkennt man bereits daran, daß sie sich über die Jahrtausende hinweg
nicht sonderlich gewandelt hat und trotz des sich allgemein verschärfenden
Lebenskampfes weiterhin Bestand hat. Gerade deswegen gilt:
Ethisch ist, was der nächsten Generation
nicht schadet. Daran ist alles zu bemessen. So wäre es jedenfalls im
Sinne der Evolution. Doch zu einem Umdenken bedarf es augenscheinlich einer
Abwandlung der Menschenrechte, einer Neuordnung dessen, was der Mensch sei.