Anthropologische Begründung des Freiheitsdrangs
Der Freiheitsdrang ist
der Antagonist des Machtstrebens. Während letzteres den Menschen zu
unterjochen sucht, ist der Freiheitsdrang bestrebt, dieses Joch
abzuschütteln, um eine Balance zwischen Herr- und Knechtschaft herzustellen.
Der Mensch ist nicht frei geboren, wie von den Aufklärern behauptet, sondern
unterliegt zunächst der Vorherrschaft der Eltern. Auch wenn die Nabelschnur
ihn nicht mehr an den Mutterleib kettet, so hängt er lange noch an den
Mutterbrüsten. Während der gesamten Kindheit kann er sich nicht selbst
versorgen und obliegt der elterlichen Fürsorge. Die Eltern sind es auch,
welche ihm die Entscheidungen abnehmen, ihn in allem bevormunden. Erst mit
dem Flüggewerden regt sich beginnender Widerstand, fängt der Heranwachsende
an, sich der Fremdbestimmung zu entziehen. Er begehrt auf, sowohl seinen
Lehrern als auch Erziehern gegenüber. Diesen Prozeß der Befreiung muß jeder
Mensch durchlaufen, er ist notwendig für das Erwachsenwerden. Denn
schließlich soll der Mensch lernen, selbst eine Familie zu ernähren, eine
Aufgabe, die ihm kein anderer abnehmen kann. Zu seiner freien Entfaltung
kann ein Mensch keine Fesseln akzeptieren, da ihm die ungebundenen Hände als
Grundlage seiner Existenz dienen. Also versucht er krampfhaft alles
abzuwehren, was ihn an seiner freien Lebensgestaltung hindern könnte. Denn
ein Mensch, der nicht über sich selbst bestimmen kann, ist abhängig, Sklave
anderer oder muß sich, um sein Auskommen zu
finden, Fremden gegen Lohn verdingen. Häufig ist Freiheit an Besitz gekoppelt, und meist tritt Unfreiheit
erst dort in Erscheinung, wo Besitz verlorengeht. Völker, die keine
geregelten Besitzverhältnisse kennen, sind daher oftmals freier als solche,
die den Zwängen des Teilen-müssens unterworfen sind.
Als die ersten Bauern das
Land unter sich aufteilten und lange bevor es Städte gab, besaßen
diejenigen, denen kein Land gehörte, den Status des Unfreien, weil sie sich
ja stets auf fremdem Eigentum befanden. Denn der Wald ermöglicht einer
wachsenden Bevölkerung kein Auskommen. Später, als es erste Städte gab,
wanderten viele nach dorthin ab, denn Stadtluft macht bekanntlich frei. Als
der Adel die Herrschaft über das Land übernahm, wurden die Bauern zu
Unfreien, weil sie ihr eigenes Land nicht selbst beschützen konnten. Das
Römische und auch Reiche des Mittelalters basierten vollständig auf
Sklaverei, da schwere Arbeiten sonst niemand leisten konnte. Sklaven wurden
meist aus den Reihen der Kriegsgefangenen rekrutiert, Hörigkeit und
Leibeigenschaft erstreckten sich aber auch auf die Kriegerkaste. Im
Mittelalter waren es die Ministerialen, die Unfreie waren, obwohl sie selbst
über Herrschaften verfügten. Vasallen trugen ihr Land lediglich zu
Lehen, und es fiel nach ihrem Aussterben an den Lehnsherrn zurück. Auch die
Kirche bediente sich mit Hilfe sogenannter Vögte, die meist dem Hochadel
entstammten, der Leibeigenschaft ganz vortrefflich. Während der
Landsknechtszeit war die Leibeigenschaft zwar weitgehend abgeschafft, aber
eine Abhängigkeit bestand weiterhin, dadurch daß man sich seinem Kriegsherrn
gegen Sold verdingte. Zur Zeit des Absolutismus war im Zuge der Aufklärung
die persönliche Freiheit zwar nicht mehr in dem Maße gefährdet wie noch zu
Zeiten der römischen Kaiser, jedoch die politische Freiheit existierte
schlichtweg nicht. »Der Staat bin ich«, war die erklärte Absicht des
Sonnenkönigs Ludwig XIV. In der bürgerlichen Gesellschaft der freien
Reichsstädte übernahmen Stadtrat und Zünfte die Gesetzgebung, nachdem ihnen
Markt- und Stadtrecht einmal erteilt waren. Im Zunftwesen hatte, wer nicht
sein eigener Herr und Meister war, als Geselle niedere Arbeiten zu
verrichten. In der aufkeimenden Industrialisierung fristeten viele als
Tagelöhner ihr Leben, persönlich zwar frei, aber immer noch Regeln und
Gesetzen des Kapitals unterworfen. Die Blutgerichtsbarkeit unterlag meist
dem Landesherrn, er entschied über den Teil an Freiheit über Leib und Leben,
den der einzelne nicht besaß. In der griechischen Demokratie, der Polis, die
später von der römischen Republik übernommen wurde, besaßen politische
Freiheit nur diejenigen, denen auch das volle Bürgerrecht zuteil war, nicht
aber Sklaven und Frauen. In den christlich-kirchlichen Organisationen galt
neben allgemeinen Statuten das Recht des Oberen, in den Klöstern waren dies
die Äbte, während die Priester in den Pfarreien, zu Diözesen zusammengefaßt,
den Bischöfen unterstanden, letztere wiederum den Erzbischöfen und diese
schließlich nur noch dem Papst. Weltliche und geistliche Macht stritten oft
gar heftig um die Vorherrschaft, konnten sich gegenseitig jedoch nie
ganz niederringen. Auch lange nach der Säkularisation sitzen Kleriker
immer noch in Ethikräten, und wenn ihnen zu ihrem Machterhalt gar nichts mehr
einfällt,
traktieren sie die anderen mit Menschenrechten. Die modernen Staatsgebilde entziehen
dem Menschen mehr und mehr an persönlicher Freiheit durch nationale und
internationale Gesetzgebung sowie Auslieferungsabkommen, womit der Traum von
der großen Freiheit wohl endgültig ausgeträumt ist. Selbst die
vielbeschworene Freiheit auf See gehört heute längst der Vergangenheit an.
Freiheiten können sich
überschneiden. Die Freiheit des einen endet dort, wo die des anderen
beginnt, heißt es nach dem einfältigen Verständnis der Soziologen. Doch
wahre Freiheit erlaubt alles. »Erlaubt ist, was gefällt«, war die Devise des
Dichters Torquato Tasso. In Zeiten des Liberalismus versucht man die
Freiheit auch auf das Wirtschaftsgeschehen auszudehnen. Die
Freiheit der kapitalistischen Ausbeutung des Menschen verschiebt das
Ungleichgewicht immer weiter zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung, jedoch
zum Wohle der Spekulanten. Ölkonzerne sprechen sich untereinander ab und
diktieren die Preise, ohne daß jemals ein wahrer Wettbewerb stattgefunden
hätte − zur erklärten Benachteiligung des Konsumenten. Der Kommunismus ist
daher Ausdruck des verständlichen Wunschs, sich aus der wirtschaftlichen
Abhängigkeit vom Kapital zu befreien.
Verteidigungspolitisch
repräsentiert Freiheit den Wunsch nach Loslösung von Abhängigkeiten aufgrund
des aufgezwungenen Schutzes durch andere Staaten. Im Kolonialzeitalter
oktroyierten die Kolonialmächte ihren Kolonien systematisch Schutzverträge
auf, um sie desto besser politisch bevormunden zu können. Heute versuchen
die Vereinigten Staaten von Amerika desgleichen, sich durch die
Bündnisinstitution der NATO militärische Gefolgschaft im Krisenfall zu
sichern, indem sie ihre Alliierten zur unfreiwilligen Teilnahme an ihren
Kriegen verpflichten. Daher besteht bei einigen Bündnispartnern der
verständliche Wunsch, sich aus dieser unerwünschten Umklammerung zu lösen.
Doch hält die Macht die Freiheit fest im Griff, befindet sich scheinbar mit
ihr im Gleichgewicht, ein ständiges Tauziehen herrscht zwischen ihnen. Wo
die Macht nachgibt, wird die Freiheit größer, wo sie anzieht, schwindet
jene. Doch die ersehnte Freiheit kann es nicht geben, wo Menschen
miteinander auskommen müssen. Gesetze und Regeln stellen lediglich einen
Kompromiß zwischen zwei Parteien dar, den beide nur unter Verzicht
eines Teils ihrer angestammten Rechte eingehen können. Auf diese Weise
halten Macht- und Unabhängigkeitsstreben sich die Waage. Droht dieses
Gleichgewicht zu kippen, schlägt die Macht entweder in die totale
Entmündigung des Bürgers um, oder − das andere Extrem − jeder einzelne
erlaubt sich beliebige Freiheiten und damit auch Ungerechtigkeiten. Ob man
am Ende das Unrecht durch einen einzelnen erfährt oder durch viele, etwa die
Mehrheit, spielt hinsichtlich der Konsequenzen keine Rolle. Insofern sind
Demokratie und Kommunismus nichts anderes als eine Diktatur des
Proletariats, welche schlimmer sein kann als jegliche Tyrannei eines
Despoten. Die Freiheit regelt jedenfalls unser Zusammenleben, wobei nicht
unerwähnt bleiben darf, daß Freiheit immer auch etwas kostet. Ohne Freiheit
jedenfalls kann der Mensch kaum atmen oder sich entfalten. Der Umstand, sich
frei bewegen zu können, ist es aber gerade, was dem Menschen die Möglichkeit
verschafft, sich schädlichen Einflüssen zu entziehen. Wenn ihm diese
Möglichkeit genommen wird, begehrt er auf, ja er kann sogar krank dabei
werden. Zum Wohle seiner eigenen psychischen Gesundheit benötigt der Mensch
also die Unabhängigkeit, ohne sie verkümmert er und geht zugrunde. Das ist
der Grund, warum die Evolution den Menschen mit dem Freiheitsdrang
ausgestattet hat und warum Freiheitsentzug so weh tut. Der Mensch braucht
frische Luft und Zugang zu sauberem Wasser, er braucht die Kraft der
wärmenden Sonne und ausreichend Nahrung. Er muß in den Wald hinausgehen
können, um den Stimmen der Vögel zu lauschen oder dem Rauschen des Baches
zuzuhören, und wo es ihm gefällt, dort muß er sich jederzeit
niederlassen können. Darin unterscheidet sich der Mensch wahrscheinlich
nicht grundsätzlich vom Tier, das im Gegensatz zu ihm auch in der
Gefangenschaft leben kann, doch hat das Tier nicht die Probleme, die der
Mensch mit seinesgleichen hat. Der Mensch allein hat es nötig − eine
Konsequenz seines Machtstrebens −, seine eigene Geltung hervorzuheben, indem
er andere ihrer Freiheit beraubt. Aus diesem Grunde waren in der Evolution
jene erfolgreicher, denen es gelang, sich ihre Freiheit zu bewahren und das
Übel der Unterdrückung von sich fernzuhalten. Diejenigen, die sich allezeit
versklaven ließen, haben stets nur den Mächtigen zum Siege verholfen. Ob die
französische Revolution dem Menschen nun insgesamt zu einem besseren Leben
verholfen hat − was er sich wohl von ihr versprochen haben muß − mag
einigermaßen bezweifelt werden. Denn schnell kehren Größenwahn und Magnatentum zurück und bescheren den Menschen nur für kurze Zeit einen
Lichtblick. Schließlich kann Freiheit am Ende keine totalitären Kräfte davon
abhalten, daß ihre Schwächen durchschaut werden und äußere Mächte sie
zerreiben. Insofern kann Freiheit entweder nur allen zugute kommen oder eben
keinem. So gesehen birgt Freiheit durchaus Gefahren, nicht nur, daß sie die
Mächtigen herausfordert, sie ist auch zersetzend und auflösend, wenn sie das
gesunde Ausmaß überschreitet und Durcheinander und Wirrwarr Vorschub
leistet. Denn das größte Chaos entsteht stets durch zuviel Freiheit, und
letztere leitet immer einen Niedergang ein, sei es in der Kunst, der Kultur,
der militärischen Stärke. Der Schaffende braucht die Freiheit der
künstlerischen Entfaltung, die sich allerdings ihre Grenzen selbst
auferlegen muß.
Im Anfang gab es keine Freiheit, weil Freiheit auch ein
Zeichen zunehmender Schwäche ist. Ihre Errungenschaften gehen nicht
zielgerichtet in ein und dieselbe Richtung, sondern weisen in verschiedene.
Wie in der Wirtschaft ist Freiheit eine Tauschware, die veräußert werden
kann. Sie ist daher stets in Zusammenhang mit anderen Bestrebungen zu sehen
und mit diesen abzustimmen. Ihr größtes Potential liegt darin, daß wer sich
befreit hat, selbst irgendwann darangehen kann, die um sich herum zu
versklaven. Persönliche Freiheit ist die Vorbedingung zur Macht. Sie steht
nicht im Einklang mit einem einheitlichen Wertesystem, sondern schöpft aus
der Vielfalt. Und weil Freiheit Stärken und Schwächen auf sich vereint, ist
sie eine zwiespältige und doppelzüngige Größe − zugleich von asozialer Natur
−, die zwar unserer Selbsterhaltung dient, nicht aber unserer Arterhaltung,
und die uns vom Herdentier, das seinem Rudelführer Gehorsam leistet,
eindeutig abgrenzt. In der Tat gehen in freiheitlichen Staatsgebilden die
Geburten stark zurück, so daß unser Freiheitsdrang anthropologisch gesehen
sowohl Fluch als auch Segen ist. Denn auch der Freiheitsdrang ist ein
Affekt, mit dem der Mensch noch nicht so richtig umzugehen gelernt hat,
zumal die Freiheit es ihm erleichtert, sich aus seiner Verantwortung zu
stehlen. Denn
Freiheit begehrt gegen die Pflicht auf, stellt
sich gegen Recht und Ordnung. Jungen Männern ist es z.B. gestattet, sich der
Wehrpflicht zu entziehen und die Landesverteidigung den Aufopferungsvollen
zu überlassen. Ein asozialeres Verhalten ist kaum denkbar. Die
Meinungsfreiheit gestattet jedermann, um ein weiteres Beispiel zu nennen,
durch Wort und Schrift die Unwahrheit zu verbreiten. Das Recht, vor Gericht
die Aussage zu verweigern − ein drittes Beispiel − erschwert die
Überführung von Straftätern. Die Freiheit schließlich, auf
eigene Nachkommen zu
verzichten, seine Rente aber von den Kindern anderer erwirtschaften zu
lassen, ist ebenso asozial wie die Freiheit, für einen angerichteten Schaden
nicht selbst aufkommen zu müssen, sondern ihn durch die Allgemeinheit
begleichen zu lassen. Die wiedererlangte Freiheit nach Verbüßung einer
Haftstrafe, um ein abschließendes Beispiel zu geben, ermuntert so manchen
Täter zu einer Wiederholungstat. Die Freiheit, sich zu versammeln und gegen
demokratisch getroffene Entscheidungen aufzubegehren, zeigt schließlich
nicht nur den ganzen Widersinn einer Demokratie, sondern ist den Mächtigen
selbst eine ständige Gefahr.
Der Freiheitsdrang als
solcher ist unerschöpflich, und er gerät leicht außer Kontrolle. Daher
bedarf es der Macht, ihn wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Denn
Freiheitsdrang ist mehr als nur das Streben nach Unabhängigkeit, er ist der
Wille zur Teilhabe an der Macht und fügt sich somit nahtlos in
das generelle Machtstreben ein. Sein anthropologischer Sinn als Antagonist
des Machttriebs ist die Herstellung eines Gleichgewichts der
Machtverhältnisse, das solchen Systemen im Lauf der Evolution offenbar ein
längeres Überleben bescheinigt hat als denen, welche die Macht in einer Hand
oder auf eine Partei konzentrierten. Das heißt jedoch nicht, daß solche
Systeme „gesünder“ sind, denn Stabilität liegt im allgemeinen nicht im Fokus der Evolution, welche letztlich nichts anderes ist als ein
unendliches Sich-stemmen gegen den Tod.