Anthropologische Begründung des Glaubens
Jeder Mensch, sei er nun gläubig oder
nicht, hat sich wenigstens einmal in seinem Leben mit der Frage nach Gott
auseinandergesetzt. Die Fragen nun, welche die Anthropologie sich hierbei
stellt, lauten: »Woher kommt der Glaube und warum hat er sich in der
Evolution selektiv durchgesetzt? Gibt es ein Gen, welches für den Glauben
verantwortlich ist, oder ist Glauben lediglich eine Bewußtseinsfrage, um die
man schon aus logischen Gründen nicht herumkommt? Wie hängen Glaube und
Moral mit Ethik zusammen, und warum sind auch durchaus intelligente Menschen
gläubig? Oder ist Glaube doch nur eine Erziehungsfrage?«
Zunächst gilt es festzustellen, daß
Glaube eher eine gefühlsmäßige als eine rationale Angelegenheit ist. Die
Fragen: »Wer bin ich, woher komme ich, wo gehe ich hin?« sind einige der
Grundfragen der menschlichen Existenz überhaupt, und ihre Ursache ist
schlichter Wissensdrang. Dabei muß das Gefühl stets eher dasein als die
Frage selbst, denn die Ursache kann nicht auf die Wirkung folgen. Das
Fragenstellen muß also vererbt worden sein, denn wäre es anders, wäre der
Mensch nicht lernfähig gewesen. Neugierige Menschen, also solche, die immer
wieder aufs neue von diesem Gefühl heimgesucht werden und nie aufhören zu
fragen, müssen in der Evolution begünstigt gewesen sein, da sie die
Fähigkeit besitzen, Wissen in sich aufzusaugen. Wissen ist eine biologische
Waffe, und so ist auch der Glaube nichts anderes als das Wissen um die
Existenz Gottes und damit für den Menschen von unschätzbarem Wert. Dabei
wird dieses Wissen nicht daraufhin überprüft, ob es sich lediglich um
Halbwissen oder Aberglauben handelt, denn Wissen und vermeintliche Gewißheit
werden im Unterbewußtsein gleichgesetzt. Ja selbst den Zweifel hat die
Evolution ganz oben angesiedelt, da der Fragende und Wißbegierige nie
aufhört, immer neue Fragen zu stellen, um immer weitere Kenntnisse zu
erwerben. Der sokratische Zweifler, der sich mit seinem Unwissen, dem auch
die Gewißheit in Glaubensfragen gleichgesetzt werden kann, nicht zufrieden
gibt, und der immer weiterbohrt, ist dem Gläubigen, der mit seiner
»Erkenntnis« das Fragen einstellt, indem er sämtliche Zweifel ablegt,
darwinistisch überlegen. Gäbe es die Zweifler und Atheisten nicht, wäre kein
Erkenntnisfortschritt der Menschheit möglich gewesen, sondern schon längst
Stagnation eingetreten, und die Gläubigen hätten sich durchgesetzt. Glaube
ist daher ein typisches Zeichen primitiver Kulturen. Je niedriger eine
Kultur steht, desto mehr Gläubige vereint sie auf sich. Atheisten, Zweifler
und große Denker hat nur das Abendland hervorgebracht, primitive Eingeborene
sind und bleiben in der Regel Animisten, malen sich irgendeine Traumzeit
aus, beten Tiere oder irgendwelche Naturgottheiten an und nennen allenfalls
ein polytheistisches Götterpantheon ihr eigen. Direkt unter dem
atheistischen Materialismus ist der Monotheismus aufgehängt, der das
Metaphysische wenigstens auf eine überirdische Macht begrenzt.
Glaube und Unglaube unterscheiden sich
hinsichtlich ihrer Fragestellung nicht, nur gibt der Atheismus keine
vorschnelle Antwort, sondern meldet immer neue Zweifel an, während der
Glaube mit dem Fragen aufhört und das Nachdenken einstellt. Entgegen der
schlecht begründeten Behauptung, der Religiöse habe dem Zweifler gegenüber
einen Evolutionsvorteil erzielt, verhält es sich nämlich genau umgekehrt.
Während sich das Trachten des Gläubigen nur noch darum dreht, wie er ein
möglichst gottgefälliges Leben führen kann, legt der Atheist alle Moral
schonungslos beiseite und beschreitet neue, zielführende Wege, vertieft sich
in Forschung und komplexe Aufgaben, die er sich selbst gestellt hat, und
geht in seinem Erkenntnisdrang auf. Der Gläubige hingegen zerfließt in
religiösen Ergüssen und zerbricht schließlich an seinen fortwährenden
Schuldgefühlen. Die Natur begünstigt also danach eindeutig den logisch
denkenden »Heiden«, und nicht den reuigen, bußfertigen Sünder.
Es gibt aber noch eine weitere Triebfeder
für religiöse Überzeugung neben der fragenden Neugier, das ist die Angst vor
dem Tod. Not lehrt beten, sagt ein altes Sprichwort. Religiosität ist
genetisch eng mit dem Selbsterhaltungstrieb verknüpft, und zwar insofern,
als der genießende, lebensbejahende Mensch niemals sterben möchte und daher
alles tun würde, über den Tod hinaus weiterzuleben. Die Idee der
Wiedergeburt entspringt genau dieser Regung. Die Theorie dazu haben sich die
Religionsstifter ausgedacht, nur passen deren Thesen längst nicht mehr in
die moderne wissenschaftliche Welt. Da jeder Mensch genetisch mit derselben
Neugierde und derselben Angst ausgestattet ist, stellt sich auch jeder die
gleichen existentiellen Fragen und bekommt die gleichen unbefriedigenden
Antworten. Für welche davon er sich entscheidet und wie er damit umgeht, ist
allein seinem Intellekt überlassen: Kriegergen- oder Jesustyp? Also ist das
Wesen der Religion; doch nur, wer seine Neugier befriedigt, seine Fragen
beantwortet und seine Angst überwindet, hat biologisch die besseren Karten
und zählt zu den Starken.
Es war im übrigen nicht immer so, wie wir
es heute vom Christentum her kennen, das einen liebenden und gnädigen Gott
annimmt. Es gab durchaus Religionen, in denen Gott gefürchtet war, weil ihn
nach Opfern und Menschenblut dürstete und er dem Menschen die geistig nicht
faßbare Gewalt der Natur verkörperte. Die Gottheit ist darin die Antwort auf
die Schrecken, die sich der Mensch ohne waltenden Geist nicht erklären kann.
Da jeder von uns offenbar Antworten braucht, an denen er sich festhalten
kann, um zu überleben, sind Glaube und Atheismus im Grunde nicht so
wesensverschieden, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn auch der
Atheismus offeriert Lösungen (z.B. den »Übermenschen«),
die als Trost dienen können, solange man es nicht besser weiß. Dabei hat der
Glaube an Gott mit der Liebe zu Gott zunächst nichts zu tun, denn diese
Liebe entsteht erst, wenn man Gott als seinen Erlöser und Retter in der Not
ansieht, nicht zuletzt aus Dankbarkeit für die Offenbarung des ewigen
Lebens. Auch die Liebe dient, wenngleich als Liebe zu Gott platonisch
verklärt, aus anthropologischer Sicht der Arterhaltung. Somit vereinen sich
im Glauben in nahezu idealer Weise zwei oder mehr Regungen zu einem starken
Verbund, die Wahrheitsliebe, die Furcht und die Freude über die Erlösung.
Das alles erklärt vollständig, welchen anthropologischen Nutzen der Mensch
aus dem Glauben zieht. Und wieder läßt sich kein primäres Gen entschlüsseln,
welches für Religiosität verantwortlich wäre. Die psychische Neigung,
ungeprüftes Material um des angenehmeren Empfindens willen einfach zu
akzeptieren, anstatt zu hinterfragen, muß aber dennoch eine erblich bedingte
Anlage sein, wenngleich das dafür zuständige Gen noch nicht gefunden ist.
Der Mechanismus sollte hingegen ganz ähnlich wie beim Krieger-Gen erklärt
werden können, wo unter sonst gleichen Bedingungen beim einen Aggression
vorhanden ist, beim anderen dagegen nicht. Was dort Unvernunft ist, ist hier
Manipulierbarkeit.
Es scheint in der Tat zwei Sorten Mensch
zu geben: solche, die sich etwas einreden lassen, weil sie leichtgläubig
sind, und andere, bei denen das nicht so ohne weiteres möglich ist, weil sie
über eine erhöhte Kritikfähigkeit verfügen. Die Art und Weise, wie das genau
funktioniert, ist noch nicht hinreichend geklärt. Es scheint aber, als
würden es die unkritischen Typen im Leben leichter haben, wodurch sie von
der Evolution begünstigt wären, während der andere Typus seine Probleme
nicht lösen kann und daher viel eher verzweifelt. Paradoxerweise ist der
Nihilismus nach Nietzsche sowohl ein Zeichen zunehmender Stärke als auch
zunehmender Schwäche. Andererseits wären Technik und Wissenschaft bei weitem
nicht so schnell vorangekommen, wenn es nicht immer wieder Menschen gegeben
hätte, die alles »ungläubig«
hinterfragt hätten. Ob deswegen allerdings die Gläubigen (nach Nietzsche die
»letzten
Menschen«)
bald aussterben werden, muß einigermaßen bezweifelt werden, denn die Schläue
nimmt in Summe keineswegs zu, sondern geht umgekehrt wohl eher zurück. Denn
auch in Zukunft wird gelten: Wer im Sinne der Evolution den Weg des
geringsten Widerstandes beschreitet, wird sich auch weiterhin manipulieren
lassen und auf irgendwelche Verschwörungstheorien (Religionen) hereinfallen.
Denn was ist Glaube anderes als graue Theorie?
Anthropologisch gesehen ist Religion eine
Sekundärfolge aus fundamentalen Trieben, vielleicht noch zusätzlich
beeinflußt von der Neigung jedweder höheren Art, sich einer Autorität zu
unterwerfen und noch etwas Höheres über sich zu akzeptieren. Insofern hilft
Religion dem Menschen zwar persönlich, jedoch nicht unmittelbar, sondern nur
als Droge, die den Blick für die Wahrheit trübt und die Sinne vernebelt, der
Menschheit als Ganzes aber nicht wirklich weiterhilft. Allerdings stand die
Menschheit im Laufe ihrer erst kurzen Geschichte auch noch nicht vor derart
existenzbedrohenden, globalen Herausforderungen, wie sie in den letzten
Jahrzehnten in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt sind. Insofern ist
der Glaube noch niemals wirklich auf dem Prüfstand gestanden. Wie also
hätten die Menschen ihren Umgang mit ihm im Sinne der Evolution verbessern
können? Der Atheismus ist ein erster Schritt dazu, da er die Welt
differenzierter betrachtet, anstatt die »Wahrheit« einfach nur zu schlucken,
wie sie traditionell überliefert wird. Es ist letztendlich nur das
eigenständige Denken, welches den Menschen in der Evolution voranbringen
kann, und dazu muß man den Glauben wenigstens sublimieren, wenn man ihn
schon nicht ganz abschütteln kann. Für den Fortbestand der Art ist er
nämlich mittlerweile zu einem unkalkulierbaren Risiko geworden, so daß der
Kampf ums Überleben am Ende von dem entschieden wird, dem es gelingt, ihn im
Sinne einer Bewußtseinsänderung abzulegen und zum Atheismus zu konvertieren.
Der Abfall vom Glauben ist dazu unabdingbare Voraussetzung, er ist notwendig
für den Fortbestand der Art, denn nur der freie Geist hat überhaupt Aussicht
zu überleben, und für diesen Bewußtseinswandel verbleibt der Menschheit nur
mehr wenig Zeit. Denn der Glaube ist zu Zeiten entstanden, als man es nicht
besser wußte.
Dabei geht es nicht einmal um die ersten
und letzten Dinge, sondern es beginnt bereits damit, daß Gott nicht in
Menschengestalt geschlüpft sein kann, daß der unvollkommene Mensch nicht
nach Gottes Ebenbild geformt ist, und daß es keine Wunder gibt, und daß
nichts, aber auch gar nichts auf ein Weiterleben nach dem Tode hindeutet. Es
gibt auch keinen Grund, warum wir zuerst geboren werden müssen, um am Ende
auferstehen zu dürfen. Wer nicht erkennt, daß die Welt mit all ihren
Schrecken und ihrem Elend eher noch das Werk eines Teufels ist als das eines
Gottes; wer nicht einsieht, daß die Natur ihrem Wesen nach unendlich grausam
und eines Gottes unwürdig ist; wer nicht begreift, daß der Mensch von Natur
aus böse ist, weil ihn die Evolution entsprechend geformt hat, und wer da
glaubt, Gott hätte sich in Schriftform einem auserwählten Volk gegenüber
geäußert, und dabei verkennt, daß sämtliche heiligen Schriften lediglich von
Sterblichen nach eigenem Gutdünken verfaßt sind, an dem ist die Weisheit
spurlos vorübergegangen. Und weil Glauben und Unglauben anthropologisch
gesehen durchaus eins sind, scheiden sich an den Zweifeln die Geister.
Religion als Therapieversuch der Evolution zur Angstbewältigung, mehr ist es
nicht, was sich dahinter verbirgt. Die Androhung von Höllenstrafen schürt
diese Ängste noch, gestützt auf die Unwiderlegbarkeit der Aussagen.
Angst ist wohl derjenige Urinstinkt, mit
dem der Mensch am längsten Erfahrung hat. Auf dieses Gefühl führt sich
anthropologisch der Glaube zurück. Und noch ein weiteres Gefühl fließt in
die Betrachtung ein, das ist die überlieferte Tradition: Dinge, an die schon
unsere Vorfahren über Generationen hinweg immer wieder geglaubt haben,
können nicht falsch sein. Auch sämtliche bislang fehlgeschlagenen
Gottesbeweise oder –widerlegungsversuche scheinen den Gläubigen recht zu
geben und bringen die Zweifler zum Schweigen. Es sind also an diesen
Betrachtungen durchaus rationale Überlegungen beteiligt. Vorsicht ist aber
auch hier die Mutter der Porzellankiste. Wenn es daher schon nichts zu
verlieren gibt, so gibt es möglicherweise doch etwas zu gewinnen, nämlich
den sicheren Platz im Himmel, der dem Gläubigen allezeit winkt. Glaube ist
also ein Sammelsurium aus emotionalen und rationalen Gründen, eine
Geisteshaltung mithin, die dem Menschen das Dasein erleichtert und ihm im
Leben auf die Sprünge hilft.
Die Anthropologie klärt darüber hinaus
noch den Widerspruch zwischen den einzelnen Religionen auf, denn die
Grundregungen sind in allen Auslegungen die gleichen. Nur so sind Aussagen
wie »Sämtliche Religionen stimmen in allen wesentlichen Punkten überein« zu
verstehen. Alle legen sich ein Gerüst zurecht, in dem der Tod nicht
vorkommt, und falls doch, so wird er dem Glück gleichgesetzt. Zu den
letzteren gehört auch der Atheismus oder vielmehr der Nihilismus, der den
Tod als eine willkommene Erlösung preist und alles Glück der Welt verachtet.