Anthropologische Begründung der Liebe
Die Liebe ist ohne Zweifel das größte aller Gefühle.
Dichter haben sie besungen, Philosophen ihr in elegischen Worten gehuldigt.
Sie ist das tragende Thema vieler großer Romane und Dramen. Theologen
erklärten sie zu einem Attribut Gottes, und der gemeine Mann sucht den Sinn
des Lebens in ihr. Das immer wiederkehrende Motiv zweier eng umschlungener
Liebender erlebte im verklärenden Minnesang des Mittelalters und in der
Malerei der Romantik ihren ausdrucksstärksten Höhepunkt, nachdem sich
bereits in der Antike Dichter wie Ovid und der Philosoph Augustinus an ihr
versucht hatten. Die Evangelien der christlichen Lehre sind durchzogen von
einem roten Faden der Nächstenliebe und Brüderlichkeit, und seit ihrer
Gründung predigt die katholische Kirche Barmherzigkeit und Mitmenschlichkeit
gegenüber anderen. Wiewohl man den Begriff Liebe aber auf alles und jedes
anwenden kann, muß man psychologisch dennoch präzise zwischen der Liebe
unter den Geschlechtern, der Liebe zu seinen Eltern und Kindern und der
Liebe zu irgendeinem x-Beliebigen unterscheiden. Ja selbst Tieren kann Liebe
entgegengebracht werden.
Der Begriff Liebe ist als solcher weit gefaßt: Der eine
liebt gutes Essen, ein anderer Musik, ein Dritter nur sich selbst. Liebe ist
der Hauptbestandteil irdischen Glücks, zu dem auch eine ganze Reihe anderer
Freuden beitragen, die strenggenommen aber keine Liebe im eigentlichen Sinne
sind. Einigen wir uns darauf, daß Liebe nur zwischen Menschen und allenfalls
noch zwischen Mensch und Tier existieren kann, und daß Mitleid ein Teil
dieser Liebe ist. Selbstliebe und Narzißmus hingegen seien etwas anderes.
Die solche Regungen ins sich tragen lieben nur sich selbst oder zehren als
Voyeure von der Liebe der andern.
Über all den Spekulationen landen wir fast unweigerlich
bei der Liebe im anthropologischen Sinne, die einen klaren Zweck verfolgt
und einen erkennbaren Nutzen bringt. An sich ist Liebe ja nur ein Affekt
des Arterhaltungstriebes, zum eigenen Überleben ist sie nicht erforderlich.
Ohne Liebe können wir uns auch fortpflanzen, mit Liebe hingegen tun wir es
bewußter. Oft ist Liebe gepaart mit Sehnsucht nach Schönheit, unseren
Sexualpartner wählen wir nach solchen Kriterien aus. Man kann sich ebensogut
in die schöne Seele eines Menschen verlieben, und wir sind dann eher
geneigt, beim Aussehen Abstriche zu machen. Denn man liebt stets den ganzen
Menschen, und nicht nur einen Teil von ihm. Immer jedoch sind es
Eigenschaften, die bei uns positive Gefühle erwecken. Nicht selten lieben
wir jemanden, bloß weil er ein guter Mensch ist, oder wir lieben ihn, weil
er auch von anderen geliebt wird. Die guten Eigenschaften, die wir an einem
Menschen lieben, befähigen ihn, leichter durchs Leben zu kommen, und wir
wollen unbewußt, daß sich solche Eigenschaften auch vererben. Am Ende ist es
die Evolution selbst, die am meisten davon profitiert – sofern die Liebe den
Menschen nicht um ihrer selbst willen lebensuntüchtig macht. Denn schnell
artet Liebe in Mitleid aus, und Mitleid ist in der Evolution nicht immer von
Vorteil gewesen, ja es wird häufig sogar denen entgegengebracht, die es gezielt
darauf anlegen und die es gar nicht verdienen. Doch ganz ohne Mitleid wäre
die Menschheit wohl schon längst ausgestorben, würden die Menschen sich
nicht immer wieder gegenseitig helfen. Man stelle sich nur einmal vor, wir
hätten die Verwundeten auch bei noch so geringer eigener Gefahr stets
schutzlos preisgegeben, um ausschließlich uns selbst zu retten, hätten keine
Nahrung mehr mit anderen geteilt, weil wir uns dadurch selbst bessere
Überlebenschancen ausrechneten. Das hat die Natur offenbar so nicht gewollt,
und gerade, weil wir bis zu einem gewissen Grade hilfsbereit waren, hat die
Menschheit als Ganze überlebt, was ihr wahrscheinlich nicht geglückt wäre,
wenn wir alle ausschließlich an uns eigenes Heil gedacht hätten. Doch die
Liebe läßt uns mit andern teilen, selbst Gefahren, aus denen wir uns
gemeinsam leichter befreien können, und damit hatte das Unternehmen Mensch
insgesamt mehr Erfolg. Denn ohne die Liebe anderer sind wir nicht nur
einsam, allein sind wir schwach; Gemeinsamkeit hingegen verbindet und macht
uns als Gruppe effizienter.
Nicht nur, daß durch die Liebe eine ständig schöner
werdende Menschheit entsteht, durch pflegende Fürsorge wird sie auch älter.
Das Evangelium verlangt sogar, daß wir unsere Feinde lieben, denn Versöhnung
ist eine Form der Liebe, die der Menschheit insgesamt zum Überleben
verholfen hat. Was allerdings zu Zeiten galt, als die Menschheit noch weitaus
weniger zahlreich war als heute, wo jeder jedem zum Problem wird (weil uns
langsam die Ressourcen ausgehen), damit hat die Evolution noch geringe
Erfahrung (zumal der Fall auch noch nie eingetreten ist), so daß der Mensch
an seiner gewohnten Liebe festhalten wird, bis die Evolution entweder eine
Kehrtwende vollzieht oder, falls dieses nicht mehr schnell genug gelingt, die
kollektive Selbstauslöschung eine nicht mehr abzuwendende
Folge ist.
Die Liebe endet dort, wo der Mensch wie in der
Massentierhaltung lebt, als postkolonialer Brüter in den großen Metropolen
dieser Welt, ähnlich den Ratten, die, in viel zu kleine Käfige gezwängt,
damit beginnen, sich gegenseitig totzubeißen. Erst wenn der Mensch die
Ausweglosigkeit seiner Situation verstanden hat, setzt möglicherweise ein
Umdenken ein, aber auch ein solches Unterfangen kann aus den genannten
Gründen scheitern. Wie immer es ausgehen mag, eine Polarisierung wird
stattfinden, und diese dürfte zu massiven Reibungsverlusten führen. Dann
kann es mit der brüderlichen Liebe schnell zu Ende sein, und die Lehren der
Moralisten gehören der Vergangenheit an, d.h. daß das, was vorher galt, nun
nicht mehr gilt. Die Evolution ist nämlich ein zweischneidiges Schwert, sie
kann sich gänzlich in ihr Gegenteil verkehren, zumal der Mensch ein
gelehriges Wesen ist und sein Selbsterhaltungstrieb immer noch stärker ist
als sein Arterhaltungstrieb, der wie gesagt auf Liebe gegründet ist. Allzu
große soziale Anstrengungen hingegen bringen den Solidarpakt ins Wanken, so
daß irgendwann die Gefahr besteht, daß sich ein Gefühl der sozialen Kälte
einschleicht. Dies wird sich anthropologisch aber erst sehr spät auswirken,
wenn auch dem letzten klar geworden ist, wie die Dinge zusammenhängen. Es
hat sich nämlich stets gezeigt, daß wenn zwei dasselbe Revier beanspruchen,
Streit zwischen ihnen entsteht, der in Feindschaft mündet, und dann ist
es vorbei mit dem gegenseitigen Wohlwollen. Liebe wird dann zweifelsohne nur
noch zwischen denen herrschen, die am gleichen Strang ziehen, weil sie sich
gegenseitig brauchen. Wie weit die Entsolidarisierung der Gesellschaft auch
gehen mag, die Liebe wird – wie immer sie dann geartet ist – weiterbestehen,
solange Menschen sich fortpflanzen und ums Überleben kämpfen.
Zudem gibt es Menschen, die nichts an sich haben,
was an ihnen liebenswert wäre, sie leben wie Ausgestoßene in einer
feindlichen Umwelt. So ist Liebe durchaus nichts „Göttliches“, auch wenn
man ihr das häufig nachsagt. Liebe kennt keine Rücksicht, sie ist zutiefst
egoistisch. Aus Liebe begehen Frauen Ehebruch, Männer
lassen ihre Familien im Stich. Denn oft überwiegt beim Menschen die Wollust,
doch wenn sie vorüber ist, bleibt Leere zurück, die kein Ersatz ist für die
verspielte Liebe des Partners. Der schlaue Verführer gaukelt den Frauen
stets die große Liebe vor, womit er am Ende meistens Erfolg hat. Somit ist
scheinbar der listige Ehebrecher und Heuchler der von der Evolution am
meisten Begünstigte, da er sein Ziel unter vorgeblich hohen Idealen leichter
auf diplomatische Art erreicht. Er hat sich das „Göttliche“ für seine Zwecke
zunutze gemacht, ohne daß es seinem „Herrn und Schöpfer“ aufgefallen wäre. Doch einer, der
fremdgeht und betrügt, trägt die niederen Instinkte des Affen in sich, denn
Menschwerdung bedeutet Abkehr von der unter Primaten verbreiteten
Promiskuität und Hinwendung zur Monogamie. Monogam gezeugte Nachkommen
eröffneten der Menschheit eine beschleunigte Evolution, weil sich eheliche
Verbindungen vermehrt auf den gleichen Vater und die gleiche Mutter stützen
und vorteilhafte Mutationen somit eine größere Chance sich zu verbreiten
finden.
Daß das Gute der Liebe entspringe ist eine ebenso
banale wie oberflächliche Weisheit, denn viele, die aus Liebe handeln,
meinen es zwar gut, kommen aber beim Geliebten nicht in entsprechender Weise
an. Um einen Zweck zu erreichen, der auf Freiwilligkeit des Zustimmenden
beruht, sind gutgemeinte Ratschläge genau das verkehrte und stoßen
bestenfalls auf Ablehnung; schlimmstenfalls verursachen sie ein Zerwürfnis.
Alle anderen Zielsetzungen, die vorgeblich aus Liebe geschehen, erfolgen aus
Eigennutz oder durch Bevormundung, sind also definitionsgemäß böse, etwa
die Vergewaltigung. Daß der Mensch seine Ziele zuerst durch Güte und Liebe
zu erreichen versucht beweist einmal mehr, daß der eingeschlagene Weg
lediglich der des geringsten Widerstandes ist.
Auch kann Liebe krank machen, den Menschen
in völliger Selbstvergessenheit dahinschwinden lassen, wenn er von ihr
geblendet aus dem Gleichgewicht zu geraten droht. Denn Liebe erzeugt eine
starke Abhängigkeit des Liebenden, macht ihn blind und trübt seinen Blick
für die Fehler des Geliebten, was von diesem leicht ausgenutzt werden kann.
Dinge, die man sonst niemals verzeihen würde, läßt man allein von ihm
sich gefallen. Verliebte Männer sind wie Narren, geben Unsummen für die Dame
ihres Herzens aus und begehen auch sonst alle möglichen
Charakterlosigkeiten, indem sie ihre Ehre und Würde in den Schmutz ziehen
lassen.
Gefahr droht auch, wenn die Liebe vieler Menschen einem
Einzelnen zuteil wird. Die Mächtigen dieser Welt konnten sich zum Teil nur
deshalb zu solch ungeahnten Höhen aufschwingen, weil ihnen ein Pöbelhaufen
kritiklos hinterherlief und alles tat, was ihrer Autorität schmeichelte.
Herrscher wie Alexander der Große genossen eine beinah göttliche Verehrung;
die Pharaonen waren gottgleich, und auch römische Kaiser wie Augustus ließen
sich frenetisch als von den Göttern abstammend feiern. Das alles war nur
möglich, weil ihnen das Volk zujubelte, ihnen bis in den Tod treu ergeben
war. Stets ist Liebe doch mit Treue verbunden, weil das letzte, was ein
Liebender möchte, ist, daß er seine Abhängigkeit jemals einbüßt. Er gleicht
einem Spieler, der sein Glück immer wieder aufs neue versucht. Denn kein Gefühl
beflügelt einen Menschen mehr als die Liebe. Und nichts ist leichter, als
dieses Gefühl für sich auszunutzen, wenn der Liebende zugleich die größte
Hingabe fühlt, nichts gefährlicher, wenn es zur Suggestion der Massen
verwendet wird. Für „Führer, Volk und Vaterland“ zogen die Deutschen
dereinst in den Tod, so sehr waren sie ihrem Führer in Treue und Liebe
ergeben.
Noch verhängnisvoller ist die Liebe zu Gott. In seinem
Namen lassen sich die größten Verbrechen verüben. Im Jahre 1095 rief Papst
Urban II. auf dem Konzil von Clermont zum ersten Kreuzzug auf, und am Ende
forderte dieser Kampf gegen die Ungläubigen 20 Millionen Menschenleben, „weil Gott es so wollte“. In der menschlichen Urgesellschaft wären
solche immensen
Verluste nicht möglich gewesen, weil die Erde damals noch zu dünn besiedelt
war. Doch die Bevölkerungsexplosion hat ins Gegenteil verkehrt, was von der
Evolution ursprünglich nicht vorgesehen war. Vorteilhaft war damals, unter den in kleinen verstreuten Haufen lebenden Sippen den
Zusammenhalt zu fördern. Das Band der Liebe sollte die Menschen wieder
zusammenführen und vereinen, damit sie sich in einer feindlichen Umwelt
gemeinsam besser behaupten könnten. Niemand konnte jedoch vorhersehen – am
wenigsten die Evolution selbst –, wie sich die menschliche Gesellschaft
dereinst entwickeln und was für Kapriolen die Liebe noch schlagen
würde. Man muß zugeben, daß der Aufstieg des Menschen zu rasant erfolgte,
und daß seine gefühlsmäßige Entwicklung mit den veränderten Gegebenheiten
nicht Schritt halten konnte. Das zeigt sich auch darin, wie viele Verbrechen
aus Liebe geschehen, denn kein Gefühl ist unbarmherziger und fataler zugleich als
die Liebe, besonders, wenn sie verloren zu gehen droht. Verschmähte Liebe
wartet mit dem Tod auf. Wenn sie zurückgewiesen wird, zügelt den Menschen
nichts mehr, was ihn sonst hätte bremsen können. Ungedeihliches und Verderben
gehen dann von ihr aus; und nichts ist ihr mehr heilig, wenn sie in
Eifersucht umschlägt.
Liebe stellt sich schützend vor den Geliebten. Wenn
einem liebenden Vater sein Kind getötet wird, hält ihn kein Gesetz der Welt
mehr zurück oder wäre geeignet, ihm irgendwelche Schranken zu errichten.
Er wird selbst zum Mörder und rächt so sein eigen Blut, und nichts kann ihn
von der Raserei abhalten oder zur Besinnung bringen. Also ist Liebe mit
Rache gepaart, wie Liebe überhaupt gern Allianzen mit anderen Gefühlen
eingeht. Denn aus Liebe erst entsteht Freundschaft, sie ist ein Teil davon.
Die Liebe zu seiner geraubten Gemahlin Helena veranlaßte Menelaos, den König
von Sparta, zu jenem Rachefeldzug, welchen man den Trojanischen Krieg nennt,
und der zehn Jahre währte. Vielen namhaften Helden, Barbaren wie Griechen,
wurde dieser Frevel zum Verhängnis, denn der Krieg wurde um der Liebe eines
ganzen Volkes willen geführt.
Ohne Liebe kann nichts Großes entstehen. Sie ist in der
Evolution die treibende Kraft, welche dem Menschsein einen höheren
Stellenwert in der Natur verschafft. Ohne sie gibt es kein Alpha und kein
Omega, sie erschafft Materie aus Chaos, verleiht dem Staub seinen Glanz,
und ihr Ruf eilt ihr voraus wie eine schäumende Woge, die sich erst an den Grenzen des
Universums bricht.