Das Lied von Antiochien

Die Schlacht im Drakon-Tal

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Das Chanson d’Antioche beschreibt in 374 Kapiteln, bestehend aus 9582 epischen Versen, die von Richard Le Pèlerin verfaßte Geschichte des ersten Kreuzzugs in altfranzösischer Sprache. Das nachfolgend beschriebene Drakon-Tal ist insofern interessant, als die Schlacht, die hier stattgefunden hat, von der von den meisten Chronisten angegebenen Version des Geschehens abweicht. Die Darstellung folgt dem Text von Lewis A.M. Sumberg [8], abweichend davon wurde aber im Hinblick auf die Edition die modernere Fassung von Suzanne Duparc-Quioc bevorzugt [7].

 

Die Details des Liedes bezüglich der Schlacht bei Civetot sind eine kuriose Mischung aus Wahrheit und Fiktion. Die „Chétifs“ eröffnen die Schlacht mit einem glänzenden Angriff auf die Türken. In der Tat hat sich die christliche Reiterei, was auch die Chronisten berichten, ganz wacker mit dem Feind geschlagen (1). Nachbesserer und Chronisten stimmen in der Frage des Ortes, wo die Schlacht stattgefunden hat, überein. Das Lied sagt uns, daß die Türken, sich vor dem christlichen Angriff zurückziehend, von den Kreuzfahrern dicht auf den Fersen, sich in ein Tal flüchteten. Doch war dies eine List, um die Christen zu umzingeln (XXIII, 480-488):

     

 

Or s'enfuient li Turc, Franc les vont encauçant,

Dela Nique en un val les vont aconsivant;

Desus le Civetot dont li pui sont molt grant,

La lor vint par deriere l'eschiele Solimant.

Corbarans d'Oliferne lor revint de devant.

Tant i avoit de Turs, sans mençoigne disant,

Que tot en sont couvert li pui et li pendant.

La commencemt l'estor dolerous et pesant,

Dont puis plora de dol li mere son enfant.

     
 

Das „Tal von Civetot“, wovon der Dichter wiederholt in den Beschreibungen, die folgen, sprechen wird, wird von allen Chronisten als der Ort angegeben, wo sich das Massaker am Gros der Pilger zugetragen hat (2). Dieses sich windende Tal des Drakon, nach dem Fluß benannt, der ihm seinen Namen gibt, ist von den zeitgenössischen Geographen sehr genau beschrieben worden (3):

„Das Tal des Drakon faßt nicht mehr als 500 Schritt Breite, und der Bach fließt auf unendlichen Umwegen; man ist noch keine fünfundzwanzig Minuten marschiert, ohne daß man ihn bereits dreimal hat überqueren müssen; zwanzig Minuten später passiert man ihn das vierte Mal, und man erreicht ihn schräg zu einer byzantinischen Brücke. Das Tal bildet ab da eine Schlucht, die eine Neigung von 30° Nordwest besitzt. (Prokesch folgte dieser Route auf dem Weg von Nikäa an den Golf von Nikomedien). Von diesem Punkt an überquert man den Drakon sechsmal in einer Viertelstunde, und man befindet sich in einer Art Sackgasse: rechts und links zwei Felswände, von vorn eine weitere Wand, durch welche sich der Drakon kaum Durchlaß verschafft. Mir scheint, als habe Menschenhand dabei mitgewirkt, diese Barriere ganz und gar lotrecht hinzusetzen. Unmittelbar nachdem man sie hinter sich gelassen hat, überquert man den Drakon zum elften Mal. Die Schlucht verbreitert sich darauf und erreicht einen Durchmesser von zweihundert Schritt: man hat auf der Linken kleine alleinstehende Hügel und stößt dort auf ein Tal, welches sich in Richtung Südwesten erhebt; rechts ein Felsen; unmittelbar vor sich bemerkt man auf einer beforsteten Anhöhe die Ruinen einer festen Burg; man hält sich Richtung Nordwest, man überquert den Bach, und fünfzehn Minuten später gelangt man zum Fuße der Ruinen. Diese bestehen aus sieben eingestürzten oder gewaltsam erbrochenen, durch eine Mauer zusammengehaltenen Türmen. Diese Ruine hat absolut das Aussehen einer unserer mittelalterlichen Burgen; genau hier bin ich der Überzeugung, daß sie in die Zeit der Kreuzzüge datiert. Der Drakon umschließt den Berg und grenzt ihn gegen andere Höhen ab. Hier befand sich ohne jeden Zweifel der Einlaß zum Engpaß. Kaum hat man den Burgrundgang hinter sich gebracht, und man findet ihn wieder, den Bach; er fräst sich einen Durchbruch durch eine Felsschlucht. Man schreitet das dreizehnte Mal über ihn hinweg, dann, bald danach, das vierzehnte, fünfzehnte, sechzehnte und siebzehnte Mal; man folgt der Richtung Nordwest; die Schlucht erreicht darauf eine Breite von vierhundert Schritt ... Nachdem man ihn noch zwei weitere Male passiert hat, den Bach, öffnet sich die Schlucht endlich und man tritt in die Ebene hinaus (sozusagen vor dem Golf von Nikomedien).“

Die extreme Unwegsamkeit dieser Region hilft uns zu verstehen, wie die Türken (die die Höhen der Berghänge besetzt hielten) binnen nur weniger Stunden das christliche, in den tiefen Schluchten eingekesselte Heer von 25000 bis 30000 Mann in Stücke hauen konnten (4).

Unser Nachbesserer erzählt uns, daß in derselben Schlacht ein christlicher Priester vor dem Altar, auf dem er das heilige Abendmahl vorbereitete, getötet wurde; der Dichter führt weiter aus, daß Soliman höchstpersönlich es gewesen ist, der ihn enthauptet hat. Es ist daher offenkundig, daß in diesem engen Tal, wo die Christen zu Tausenden unter dem Hagel der türkischen Pfeile umgekommen sind,

 

Et Turc aus ars de cor les vont bien destruisant,

Plus espesse n’est plueve des nues descendant ...(5),  

 

ein Priester, selbst wenn er es gewollt hätte, nicht die Messe hätte zelebrieren können. Der Anonymus und Guibert berichten uns jenes schöne, aber schreckliche Martyrium des Priesters ebenfalls, doch verlagern sie die Episode mit größerer Wahrscheinlichkeit ins christliche Lager, nach Civetot selbst, wo die Kreuzfahrer ihre Frauen, Kinder und Kranken gelassen hatten (6). Im übrigen war es hier gewesen, ganz nah am Meer, wo die letzte Phase des Massakers an Peters Heer stattgefunden hat: darüber findet man im Lied nicht ein einziges Wort.

 

Bibliographie

 

[1] Hagenmeyer, H., Le vrai et les faux sur Pierre l’Ermite, übersetzt von Furcy-Raynaud, Paris, 1883.

[2] Der Anonymus, Histoire anonyme de la Première Croisade, herausgegeben und übersetzt von L. Bréhier, Paris, 1924.

Ibid., herausgegeben und übersetzt von R. Hill, London, 1962.

[3] Albert von Aix: (Chronik), in Recueil des Historiens Occidentaux des Croisades, IV, 265-713 (=RHC Occ.).

[4] Guibert von Nogent: (Chronik), in RHC Occ., IV, 113-263.

[5] Anna Komnena: Die Alexiade, herausgegeben und übersetzt von B. Leib, 3 Bde., Paris, 1937-1946.

[6] Paris, P.: (Herausgeber) Richard le Pèlerin, la Chanson d’Antioche, 2 Bde., Paris, 1848.

[7] La chanson d'Antioche, Textedition nach der alten, von Suzanne Duparc-Quioc veröffentlichten Version, Paris, Libraire orientaliste, Paul Geuthner 12, rue Vavin (VIe) 1977.

[8] Sumberg, Lewis A.M., La Chanson d’Antioche, Paris, 1968.


 


(1) Hagenmeyer, Le vrai ..., S. 230

(2) Albert von Aix IV, 288 E; Anonymus, S. 11, 13; die Alexiade erzählt (II, 211), daß die Kreuzfahrer „mitten unter die Türken gefallen sind, in der Nähe des Drakon aus dem Hinterhalt überfallen und elendiglich massakriert worden sind.“

(3) A. von Prokesch-Osten, Erinnerungen an Ägypten und Kleinasien (Wien, 1831), III, 238-240; referenziert von Furcy-Raynaud in seiner Übersetzung von Hagenmeyer, Le vrai et le faux ..., S. 229, Nr. 3.

(4) Mehr als Dreißigtausend haben dort das Leben eingebüßt (Ant. I, 45). A. von Aix erzählt (IV, 287 B), daß die christlichen Streitkräfte aus 25000 Mann zu Fuß und 500 Rittern bestanden.

(5) Zu diesen „arc turcois”  siehe W.E. Kaegi, Jr., „The contribution of Archery to the Turkish Conquest of Anatolia”, Speculum, XXXIX, n° 1 (Januar 1964), 96-108.

(6) Anonymus, S. 11, 13; Guibert, IV, 146 B-E.