Erstes Buch
Erstes Kapitel
1. Die Erdbeschreibung, welche wir zum
Gegenstand unserer Forschung wählen, ist nach unserer Meinung
für den Philosophen eine sehr würdige Beschäftigung. Dies
läßt sich durch viele Beispiele dartun, indem diejenigen,
welche es zuerst gewagt haben, das Feld der Geographie zu
berühren, Philosophen gewesen sind; so Homer, Anaximander von
Miletus und sein Mitbürger Hekatäus, was schon Eratosthenes
sagt, ferner Demokritus, Eudorus, Dikäarchus, Ephorus und andere
mehr: unter den Neueren Eratosthenes, Polybius und Posidonius,
ebenfalls Philosophen. Auch sind umfassende Kenntnisse, wodurch
allein in diesem Fache etwas geleistet werden kann, nur ein
Eigentum dessen, der sich mit der Untersuchung über himmlische
und irdische Gegenstände beschäftigt, worin eben das Wesen des
Philosophen liegt. Sodann nimmt auch schon der vielfache Nutzen,
der sich einesteils für das bürgerliche und öffentliche Leben,
andernteils für die Kenntnis des Himmels und der Geschöpfe,
Pflanzen und anderer Erzeugnisse des festen Landes und des Meeres
ergibt, den Mann in Anspruch, der die Wissenschaft und
Glückseligkeit des Lebens zum Gegenstand seines Nachdenkens
macht.
2. Ich werde nun jeden einzelnen Punkt
meiner Behauptung näher erörtern, und zwar zuerst den, daß ich
nebst meinen Vorgängern, worunter auch Hipparchus, mit Recht
annehme, der erste Bearbeiter der Geographie sei Homer gewesen,
der alle Ältere und Neuere wie an Dichtertalent, so beinahe auch
an solchen Kenntnissen übertrifft, die sich auf das gemeine
Leben beziehen. Daher beschäftigte er sich nicht bloß damit,
recht viele Taten zu sammeln und der Nachwelt zu überliefern,
sondern auch mit der Ausmittelung der örtlichen Verhältnisse
einzelner Gegenden sowie der ganzen Erde und des Meeres: sonst
hätte er wohl die Erde nicht ringsum bis an ihre äußersten
Grenzen beschreiben können.
3. Fürs erste sagt er, was auch der
Fall ist, sie sei vom Ozean umflossen; fürs zweite führt er
einen Teil der Länder namentlich auf, andere deutet er bloß
durch Winke an. So nennt er Libyen, Äthiopien, die Sidonier und
die Erember (ohne Zweifel die arabischen Troglodyten)
ausdrücklich; aber die Bewohner der Ost- und Westgegenden gibt
er bloß dadurch zu erkennen, daß er sie vom Ozean umspülen
läßt. Denn in diesem läßt er die Sonne auf- und untergehen,
und ebenso die Gestirne:
Helios aber beschien mit erneutem Strahl die
Gefilde,
Aus sanftwallender Flut des tiefen
Okeanosstromes. -
Und zum Okeanos sank des Helios leuchtende
Fackel,
Ziehend die dunkle Nacht.
Und die Sterne nennt er gebadet im
Okeanos.
4. Er schildert auch das glückliche
Leben und den milden Himmel der Abendländer, da er, wie es
scheint, Kunde hatte von dem Reichtum Iberiens, der zuerst den
Herakles dahinzog, dann die Phönizier, deren Herrschaft sich
fast über das ganze Land ausbreitete, und nach diesen die
Römer. Denn dort weht der Zephyr; dorthin stellt der Dichter die
elysische Flur, wohin, wie er sagt, Menelaus von den Göttern
gesendet werden sollte:
Nein dich führen die Götter dereinst an
die Enden der Erde
Zu der elysischen Flur, wo der bräunliche
Held Rhadamanthys
Wohnt, und ganz mühelos in Seligkeit leben
die Menschen.
Nimmer ist Schnee, noch Winterorkan, noch
Regengewitter;
Ewig wehn die Gesäusel des leis anatmenden Westes,
die Okeanos sendet.
5. Nicht minder geben die Inseln der
Seligen, welche zwischen Mauretanien, dem äußersten Lande gegen
Westen, und der westlichen Spitze des gegenüberliegenden
Iberiens liegen, schon durch ihren Namen zu erkennen, daß man
sie, gesegneten Strichen so nahe, ebenfalls für gesegnet hielt.
Ferner nennt er auch die Äthiopen die Äußersten am Ozean. Die
Äußersten heißen sie in der Stelle:
Äthiopen, die zwiefach geteilt sind,
äußerste Menschen:
Diese zum Untergange des Helios, jene zum
Aufgang.
Unten wird gezeigt werden, daß der Ausdruck
"die zwiefach geteilt sind" nicht ohne Grunde dastehe.
An den Ozean setzt er sie in Folgendem:
Zeus ging gestern zum Mahl der
unsträflichen Äthiopen
An des Okeanos Flut; und die Himmlischen
folgten ihm alle.
Daß aber auch die Erde im Norden vom Ozean
begrenzt werde, gibt er zu verstehen, wenn er vom Bärengestirn
spricht:
Und sie [die Bärin] allein niemals in
Okeanos Bad hinabtaucht.
Unter der Bärin und dem Wagen versteht er
nämlich den arktischen Kreis: denn da so viele Sterne innerhalb
derselben Gegend sichtbar bleiben, so durfte er ja nicht einen
allein von dem Bade des Ozeans ausschließen. Er darf daher nicht
länger der Unwissenheit beschuldigt werden, als habe er nur von
einem Bärengestirn gewußt, da ihrer doch zwei sind. Das andere
war damals noch gar nicht zu einem Sternbild erhoben; und erst
seitdem die Phönizier dasselbe benannt und für die Schiffahrt
benutzt haben, kam es auch bei den Griechen in Gebrauch. So haben
auch andere Himmelszeichen, zum Beispiel das Haar der Berenike
und der Canopus, erst vor kurzer Zeit Namen erhalten; ja
viele sind, auch nach der Versicherung des Aratus, bis jetzt noch
nicht benannt. Daher war die Änderung des Krates
Und er [der Bär) allein niemals in das Bad
sich hinabtaucht
Ganz unnötig. Besser, und getreuer dann Homer,
gebraucht auch Heraklitus anstatt des Ausdruckes "arktischer
Kreis" das Wort Arktos im weiblichen Geschlecht. Er
sagt nämlich: "des Morgens und des Abends Grenze ist die
Bärin, und der Bärin gegenüber ist das Wehn der heitern
Luft." Denn der Bärkreis ist des Abends und des Morgens
Grenze, nicht die Bärin. Homer versteht also unter der Bärin,
die er auch den Wagen nennt, und die, wie er sich ausdrückt,
auch nach dem Orion schaue, den Bärkreis, und unter dem Ozean,
in welchem die Sterne auf- und untergehen, den Horizont. Und wenn
er sagt, daß sich dieses Gestirn wende und nicht in dem Ozean
untergehe, so muß er gewußt haben, daß der arktische Kreis
durch den nördlichsten Punkt des Horizontes beschrieben werde.
Nach dieser Ansicht die Worte des Dichters betrachtet, müssen
wir unter Horizont das verstehen, was auf der Erde dem Ozean
entspricht, und unter arktischem Kreis die Erdstriche, welche am
weitesten gegen Norden liegen. So ist denn nach ihm auch diese
Seite der Erde vom Ozean umspült. Außerdem kennt er noch die
nördlichsten Bewohner der Erde; zwar nicht mit ihrem Namen (denn
auch jetzt haben sie noch keinen gemeinschaftlichen): er
bezeichnet sie jedoch durch ihre Lebensart, indem er sie Nomaden
und edle Pferdemelker und arme Milchesser nennt.
7. Noch auf eine andere Art drückt er
es aus, daß der Ozean um die Erde herum liege, wenn Here also
spricht:
Denn ich gebe, zu schaun der
nährenden Erde Begrenzung,
Auf den Okeanos, unsre Geburt.
Denn er läßt den Ozean allenthalben an die
Grenzen der Erde sich anschließen; die Grenzen selbst aber
liegen im Kreise um sie herum. So wird in dem Gesange der
Waffenbereitung auf dem Schilde des Achilles der Ozean am Rande
herum abgebildet. Eben diesem Streben nach Vielseitigkeit im
Wissen verdankt er auch die Kenntnis von Flut und Ebbe des
Meeres, indem er von einem zurückfließenden Ozean spricht; und
Dreimal strudelt sie (die Charybdis)
täglich hervor, und schlürft auch dreimal.
Zwar geschieht dies nicht dreimal, sondern
zweimal; allein mag er sich nun in seiner Erzählung geirrt
haben, oder mag im Texte eine unrichtige Lesart sein, auf jeden
Fall wollte er von dieser Erscheinung sprechen: auch liegt darin,
daß er das Meer sanftfließend nennt, eine Anspielung auf das allmähliche,
nicht reißend schnelle Ansteigen der Flut. Nicht minder folgert
Posidonius aus der Beschreibung von Klippen, die bald nackt, bald
bedeckt erscheinen, und daraus, daß er den Ozean einen Fluß
nenne, daß Homer dadurch das Andringen der Flut habe bezeichnen
wollen. Die erstere Bemerkung ist gut, die letztere nicht. Denn
nicht mit dem Strome eines Flusses ist das Steigen der Flut zu
vergleichen, und noch viel weniger die Ebbe. Krates hat da eine
haltbarere Bemerkung. Homer nennt den ganzen Ozean tieffließend
und zurückfließend; einen Teil aber des Meeres nenne er Fluß
und Strömung des Flusses. Dann in der Stelle
Aber nachdem wir, des Stromes Okeanos Fluten
verlassend,
Jetzt in die Woge gelangt des weit
durchgängigen Meeres
Bezeichnet er nicht den ganzen Ozean, sondern
des Flusses Strömung in den Ozean als einen Teil des letzteren
(Krates versteht darunter irgendein Flutwasser oder eine Einbuchtung,
die sich vom Wendekreis des Steinbocks gegen den Südpol hin
zieht; aus dieser könnte man heraus und doch noch im Ozean
sein). Den ganzen Ozean aber verlassen haben, und zugleich noch
darin sein, ist eine Unmöglichkeit. Denn Homer sagt
... des Stromes Fluten verlassend,
... gelangten wir in die Woge des Meeres.
Unter dieser Woge kann aber nur der Ozean
verstanden werden. Denn wenn mans anders nimmt, so heißt
es: Nachdem wir den Ozean verlassen hatten, kamen wir in den
Ozean. Doch dies bedürfte einer weitläufigeren Erörterung.
8. Die Inselgestalt der Erde geht fürs
erste aus der sinnlichen Wahrnehmung und aus der Erfahrung
hervor. Denn allenthalben an den äußersten Grenzen der Erde, so
weit man vorgedrungen ist, hat man Meer gefunden, welches eben
der Ozean ist. Und wo sinnliche Wahrnehmungen fehlen, da kommt
uns die Berechnung zu Hilfe. Die Ostküste gegen Indien, die
Westküste gegen Iberien und die Maurusier, und ein großes
Stück der Süd- und Nordküste ist umschifft; der Rest, noch
unumschifft wegen Mangels an Zusammenhang in den Seereisen, die
von den entgegengesetzten Seiten aus unternommen wurden, ist
unbedeutend, wenn man den Abstand der äußersten, unerreichbaren
Punkte auf beiden Seiten berechnet. Es ist nämlich nicht
wahrscheinlich, daß der atlantische Ozean aus zwei Meeren
bestehe, so daß schmale Landengen die Umschiffung desselben zur
Unmöglichkeit machten; sondern er bildet ein zusammenhängendes
Gewässer. Denn diejenigen, welche Umschiffungsversuche
angestellt haben und wiedergekehrt sind, versichern, ihr
Unternehmen sei nicht wegen Mangels an Lebensmitteln und wegen
völliger Ratlosigkeit verunglückt; im Meere aber hätten sie
noch immer weiter kommen können. Dies stimmt auch besser zu den
Erscheinungen des Meeres, was Ebbe und Flut betrifft. Denn da die
Verhältnisse in Zu- und Abnahme des Wassers allenthalben
dieselben sind, oder doch nicht viel verschieden, so ist auch
wohl nur ein einziges Meer die einzige Ursache dieser Bewegung.
9. Hipparchus verdient keinen Glauben,
wenn er diesem Satze entgegen behauptet, das Meer zeige nicht
allenthalben dieselben Erscheinungen; und es folge, selbst wenn
man dies zugebe, daraus nicht, daß der atlantische Ozean rings
um die Erde in ununterbrochenem Zusammenhang stehe. Wegen der
ersteren Behauptung beruft er sich auf das Zeugnis des Seleukus
von Babylon. Was sie weitere Untersuchung über den Ozean und
über Ebbe und Flut anlangt, so verweise ich auf Posidonius und
Athenodorus, welche diesen Gegenstand hinlänglich erläutert
haben. Ich will nur noch beifügen, daß sich durch meine Annahme
die Gleichartigkeit in diesen Erscheinungen besser erklären
läßt. Auch möchte wohl die Ausdünstung des Meeres den
Himmelskörpern desto zuträglicher sein, je größer die
Wasserfläche rings um die Erde ist.
10. Homer kennt und bestimmt jedoch
nicht bloß die äußersten Punkte der Erde und was sie rings
umgibt, sondern auch diejenigen Striche, welche an dem inneren
Meere liegen. Denn an diesem Meere liegen, von den Säulen [des
Herakles] angefangen, Libyen, Ägypten und Phönizien, dann die
Striche gegenüber von Cyprus, hierauf die Solymer, die Lykier
und Karier: auf diese folgt die Küste zwischen Mykale und Troas,
nebst den vorliegenden Inseln, die er sämtlich anführt: dann
weiter die Gegend um die Propontis und das Schwarze Meer bis nach
Kolchis und dem Schauplatze von Jasons Unternehmung. Er kennt den
Cimmerischen Bosporus, weil er, und zwar nicht bloß dem Namen
nach, die Cimmerier kennt, die zu seiner Zeit oder etwas früher
vom Bosporus aus alle Länder bis nach Ionien überschwemmten.
Auch bezeichnet er das düstere Aussehen ihres Landes mit den
Worten:
Ganz vom Nebel umwölkt und Finsternis.
Nimmer auf jen auch
Schauet Helios her mit leuchtenden
Sonnenstrahlen;
...
...
Nein rings grauliche Nacht umruht ...
Er deutet auch den Ister an, indem er des
thrakischen Volkes der Mysier erwähnt, die am Ister wohnen. Er
kennt den ganzen Küstenstrich als thrakisch bis an den Peneus;
er nennt die Päonier, den Athos, den Arius samt den Inseln in
der Nähe, und von da an alle griechischen Küstengegenden bis zu
den Thesprotern. Ihm sind sogar die äußersten Spitzen Italiens
bekannt (da er Temesa und die Sikuler nennt), ihm auch das
Äußerste Iberiens samt seinem Reichtum, wie ich oben gezeigt
habe. Die Lücken, die er in seiner Länderbeschreibung läßt,
wird man ihm verzeihen, da auch der eigentliche Geograph manche
Nebensachen übergeht: so wenig als er deswegen Tadel verdient,
weil bei ihm Mythisches mit Geschichtlichem und Belehrendem
gemischt ist. Denn es ist unrichtig, was Eratosthenes sagt, daß
der Zweck des Dichters nicht Belehrung, sondern angenehme
Unterhaltung sei, da Männer, welche die Dichtkunst am
richtigsten gewürdigt haben, sie die früheste Philosophie
nennen. Über Eratosthenes werde ich weiter unten ausführlicher
sprechen, wo auch wieder von dem Dichter die Rede ist.
11. Das Bisherige möge als Beweis
hinreichen, daß Homer der erste Geograph gewesen sei. Aber auch
seine Nachfolger im geographischen Fache waren ausgezeichnete und
mit der Philosophie vertraute Männer. Eratosthenes nennt als die
Nächsten nach Homer zwei, nämlich Anaximander, einen Schüler
und Mitbürger des Thales, und den Milesier Hekatäus, von denen
jener die erste Welttafel herausgegeben, und dieser das erste
geographische Werk hinterlassen haben soll, das ihm, nach seinen
übrigen Schriften zu urteilen, auch wirklich angehört.
12. Daß aber dazu ausgebreitete
Kenntnisse erforderlich seien, haben schon viele behauptet.
Vortrefflich sagt in dieser Beziehung Hipparchus in seinen
Bemerkungen gegen Eratosthenes, daß niemand, weder der bloße
Liebhaber, noch der eigentliche Gelehrte, das Studium der
Geographie ohne genaue Kenntnis der Gestirne und der Sonnen- und
Mondfinsternisse mit Nutzen bearbeiten könne. Es läßt sich
z.B. nicht angeben, ob Alexandria in Ägypten nördlicher oder
südlicher als Babylon liege, und um wie viel, wenn man die
Bestimmung durch die Klimate nicht kennt. So läßt sich auch das
Verhältnis der Länge zweier Orte zueinander nur vermittelst der
Sonnen- und Mondfinsternisse genau bestimmen. So Hipparchus. Wer
aber auch bloß örtliche Beschaffenheiten beschreiben will,
braucht namentlich die Astronomie und Mathematik zur Bestimmung
der Gestalt, der Größe, des Abstandes, des Klimas, der Kälte,
der Wärme, kurz des Himmelsstriches. Ja jeder, der ein Haus baut
oder eine Stadt gründet, muß sich darauf verstehen: um so
weniger dürfen dergleichen Kenntnisse demjenigen mangeln,
welcher die ganze Erde überschauen will. Auf einer geringen
Fläche kommt eine mehr südliche oder mehr nördliche Lage wenig
in Betracht; aber auf der ganzen Erdscheibe da heißt es Norden
bis nach Skythien oder Keltica, und Süden bis zum äußersten
Äthiopien: das ist ein Unterschied! Ebenso ob einer bei den
Indiern wohnt oder bei den Iberern, von denen wir jene als die
Östlichsten, die zweiten als die Westlichsten, und beide
gewissermaßen als Gegenfüßler kennen.
14. Alles dieses gründet sich auf die
Bewegung der Sonne und der übrigen Gestirne und auf die
Umdrehung derselben um ihren Mittelpunkt. Aus diesem Grunde muß
man auch den Himmel und die Erscheinungen an demselben
beobachten, woraus sich oft große Unterschiede für verschiedene
Gegenden ergeben. Wer aber von allem diesen nicht das Mindeste
versteht, wie will der die Entfernungen der Örter voneinander
richtig und befriedigend bestimmen? Und wenn es auch nicht
möglich ist, nach diesem umfassenden Maßstab ins Einzelne
einzugehen, so muß man doch soviel davon verstehen, als einem
Geschäftsmanne möglich ist.
15. Wer aber einmal auf dieser geistigen
Höhe steht, den zieht auch das Studium der gesamten Erde an. Ist
es doch sonderbar, wenn einer, der die Lehre von der bewohnten
Erde vortragen will und zu diesem Behuf das Gebiet der Astronomie
berührt und dieselbe für seinen Unterricht benutzt, sich um die
gesamte Erde, von der das Bewohnte ein Teil ist, um ihre Größe,
Beschaffenheit und ihre Lage im Himmelsraume nicht bekümmert;
wenns ihm gleichgültig ist, ob die Erde nur auf unserem
Flecke bewohnbar sei, oder auf mehreren, und auf wievielen; und
ebenso, wie groß das unbewohnte Stück, und wie beschaffen und
warum es so sei? So verbindet die wissenschaftliche Geographie
durch die Vereinigung astronomischer und geometrischer Kenntnisse
die Erde mit dem Himmel, als wären sie sich ganz nahe, und nicht
so weit von einander entfernt,
Als über der Erd ist der Himmel.
16. Rechnen wir zu diesen mannigfachen
Kenntnissen noch die eigentliche Erdkunde, nämlich die Kunde von
den Tieren und Pflanzen, und von allem, was Erde und Meer
Nützliches hervorbringen, so wird meine Behauptung noch
einleuchtender werden. Der große Nutzen solcher Kenntnisse geht
aus der Erinnerung an das Altertum und aus der Natur der Sache
hervor. Denn die Dichter bezeichnen diejenigen ihrer Heroen als
die Verständigsten, welche viel gereist und umhergeirrt sind.
"Vieler Menschen Städte gesehn und ihren Sinn erkannt zu
haben," darauf legen sie ein großes Gewicht. So rühmt sich
Nestor, daß er bei den Lapithen gewesen, die ihn eingeladen
hätten:
Kam, aus entlegenem Lande der Welt: denn sie
riefen mich
Selber.
Ebenso Menelaus.
Weit nach Kypros zuvor, nach Phönike
verirrt und Ägyptos,
Äthiopien auch sah ich, Sidonier auch, und
Erember;
Sikya auch, wo die Lämmer sogleich
aufwachsen mit Hörnern.
Er fügt auch die Eigentümlichkeit des Landes
bei:
Dreimal gebären die Schaf in des
rollenden Jahres Vollendung.
Und vom Ägyptischen Theben:
. . . wo reich die Wohnungen sind an
Besitztum.
Ferner:
Hundert hat sie der Tor, und es ziehn
zweihundert aus jedem,
Rüstige Männer, zum Streit, mit
Rossen daher und Geschirren.
Alle diese Gegenstände sind kräftige Mittel
zur Bildung des Geistes, weil man dadurch die Beschaffenheiten
von Gegenden, Tieren und Pflanzen kennenlernt, wozu noch die
Kenntnis der Meererzeugnisse kommt. Denn wir sind gewissermaßen
Amphibien, da wir auf dem Wasser so gut wie auf dem Lande leben
können. Daher wurde auch Herakles wegen der Fülle seiner
Erfahrungen und übrigen Kenntnisse
Großer Taten kundig
genannt. So bestätigt sich durch die
Erinnerung an das Altertum und durch die Natur der Sache meine
obige Behauptung. Besonders aber scheint auf meinen Satz die
Wahrheit zu führen, daß der größere Teil der Geographie ihren
politischen Nutzen habe. Der Schauplatz der taten ist das Land
und das Meer, wo wir wohnen: kleine Taten haben einen kleinen,
große einen großen Schauplatz; der größte aber umfaßt alles,
was wir unter dem Namen Erdkreis bezeichnen, so daß dies der
Schauplatz der größten Taten wäre. Als die größten
Heerführer aber gelten diejenigen, welche über Land und Meer
gebieten und viele Völker und Städte unter ihrer Herrschaft
vereinigen. Daher steht die Erdkunde in genauer Beziehung auf
kriegerische Taten, weil sie es ist, die das feste Land und das
Meer ordnet, das sich innerhalb und außerhalb der bewohnten Erde
befindet. Denn dies ordnen ist eine Sache derjenigen, denen daran
liegt zu wissen, ob ein Land diese oder jene Beschaffenheit habe,
ob es bekannt sei oder nicht? Denn ein Land läßt sich besser
einteilen, wenn man seine Größe, seine Lage und die
Verschiedenheiten im Klima und im Boden kennt. Da aber der eine
hier, der andere dort seine Herrschaft hat, und jeder von seinem
Herde und seinem Sitze aus Kriegstaten unternimmt und den Umfang
seiner Herrschaft erweitert, so können weder diese Eroberer von
allem Kenntnis haben, noch auch die Geographen; sondern sie
werden manche Gegenden genauer, manche weniger genau kennen. Ja
wenn auch die ganze Erde nur ein Reich und einen Statt bildete,
so würde doch nicht alles gleichmäßig bekannt sein; doch dies
ist nicht der Fall. Das, was einem näher liegt, das muß man
genauer kennen und ausführlich beschreiben: denn dies ist uns
auch dem Nutzen nach näher. Daher ist es ganz natürlich, daß
jedes Volk, die Indier, die Äthiopen, die Griechen, die Römer,
seinen eigenen Geographen hat. Was sollte es z.B. einem
Geographen bei den Indiern helfen, wenn er Böotien so
ausführlich beschreiben wollte wie Homer:
Jenen, die Hyries Fluren bewohnt und die
selige Aulis,
Sokonos auch und Skolos.
Uns geht dies an. Dagegen nehmen wirs mit
den mit den Örtlichkeiten der Indier und mit den Völkern
daselbst nicht so genau: denn wir hätten keinen Nutzen davon;
und dieser ist doch hauptsächlich der Maßstab für solche
Kenntnisse.
17. Und dies bestätigt sich auch im
kleinen, z.B. bei Jagden. Man jagt glücklicher, wenn man die
Örtlichkeiten und die Größe des Forstes genau kennt. Die
Anordnung eines Lagers, eines Hinterhalts, eines Marsches
das alles erfordert Ortskenntnis. Freilich wirds im großen
noch anschaulicher, wo Erfahrung in diesem Falle mit
beträchtlichen Vorteilen und Unwissenheit mit bedeutenden
Nachteilen verbunden ist. Hätte Agamemnons Heer die Küste von
Mysien nicht für die von Troas angesehen und verwüstet, so
hätte es nicht mit Schimpf umkehren müssen. Hätten die Perser
und Libyer Meerengen für verdeckte Untiefen gehalten, sie wären
nicht in so augenscheinliche Gefahr geraten. Als Denkmäler ihrer
Unerfahrenheit hinterließen jene am Euripus bei Chalkis das
Grabmal des Salganens, welcher von den Persern hingerichtet
wurde, weil sie glaubten, er habe ihr Heer von Malea bis zum
Euripus irre geführt: und diese das Denkmal des Pelorus, welcher
wegen einer ähnlichen Ursache das Leben verlor. Beim Feldzug des
Xerxes war die ganze Küste von Griechenland voll von
Schiffstrümmern, und manches ähnliche Unglück litten die
äolischen und ionischen Pflanzungen. Auf der andern Seite ist
durch genaue Bekanntschaft mit einer Gegend schon mancher Streich
gelungen. So gab Ephialtes die Schar des Leonidas den Persern in
die Hände und brachte diese innerhalb der Engpässe, weil er
ihnen nach dem Zeugnis der Geschichte, bei Thermopylä, den Pfad
über das Gebirge zeigte. Wenn ich auch diese alten Begebenheiten
übergehe, so zeugt nach meiner Meinung der neuerliche Kriegszug
der Römer gegen die Parther hinlänglich für das oben Gesagte,
so wie der gegen die Germanen und Kelten, wo die Barbaren in
ihren Sümpfen und unzugänglichen Waldungen den Krieg
vorteilhaft führten, den Unkundigen das Nahe als entfernt
darstellten, die Wege verdeckten und die Zufuhr nebst den
übrigen Bedürfnissen abschnitten.
18. So ist denn die Länderkunde, wie
gezeigt worden, für das Leben und die Neigungen und die
Bedürfnisse der Herrscher besonders wichtig. Jedoch steht sowohl
die ethnische als die politische Philosophie in noch näherer
Beziehung mit ihrem Leben. Wir unterscheiden nämlich die
Regierungsform der einzelnen Staaten nach ihren Herrschern, so
die Monarchie, bei uns auch Königtum genannt, die Aristokratie
und die Demokratie. So vielerlei Arten von Regierungsformen
rechnen wir nach den Stiftern, denen sie ihren besonderen
Ursprung verdanken. Denn anders ist das Gesetz in der
monarchischen, anders in der aristokratischen, anders in der
demokratischen Verfassung; das Gesetz aber bestimmt einem Lande
seine Verfassung und sein Wesen. Weshalb auch einige sagen, des
Herrschers Wille sei das Recht. Wenn nun die politische
Wissenschaft Hauptsache für den Herrscher, die Länderkunde aber
für seine Neigung von Bedeutung ist, so möchte auch sie in
dieser Hinsicht einigen Nutzen haben, der sich übrigens auf
kriegerische Unternehmungen bezieht.
19. Die Geographie hat aber auch eine
nicht zu verachtende theoretische Seite. Diese ist teils
technisch, mathematisch und physisch; teils besteht sie in
Mitteilung von Begebenheiten und Mythen, welche nichts
Praktisches an sich haben. So liegt in den Irrfahrten des
Odysseus, des Menelaus oder des Jason nichts eigentlich
Unterrichtendes, außer wenn man nützliche Betrachtungen in ihre
Schicksale einstreut; aber eine angenehme Unterhaltung findet
man, wenn man auf solche Stellen stößt, welche die Veranlassung
zu mythischen Erzählungen geworden sind. Denn auch die
Geschäftsmänner lieben solche Stellen wegen ihrer Berühmtheit
und wegen des Vergnügens. Jedoch viel Zeit verwenden sie nicht
darauf, da sie natürlich das Nützliche vorziehen. Daher muß
auch der Geograph mehr hierauf Rücksicht nehmen, als auf das
bloß Unterhaltende. Das Nämliche gilt von den Erzählungen und
den geometrischen Sätzen: auch davon muß man immer nur das
Brauchbarste und Schwerste ausheben.
20. Am notwendigsten scheinen, wie
gesagt, dieser Wissenschaft die geometrischen und mathematischen
Bestimmungen. In der Tat sind sie notwendig. Denn die Figur, die
Klimate, die Größe nebst dem übrigen dahin Einschlagenden,
läßt sich ohne dieselben nicht genau angeben. Da jedoch die Art
der Ausmessung der ganzen Erde anderswo vorgetragen ist, so setze
ich hier die Kenntnis davon voraus, und berufe mich auf das dort
Gesagte. Wir setzen die Lehre von der Kugelgestalt der ganzen
Welt und der Erdoberfläche, so wie auch, was dieser Annahme
vorhergeht, den Satz von dem Streben der Körper nach dem
Mittelpunkt voraus: denn nur ein Beweis für die Kugelgestalt der
Erde ist leicht, nämlich der, welcher von der sinnlichen
Wahrnehmung oder von den übereinstimmenden Beobachtungen
genommen ist. Sollten wir also mit wenigen Worten beweisen
müssen, daß die Erde eine Kugel sei, so läge der Beweis,
welcher sich auf die Zentripetalkraft stützt, zu weit von unserm
Zwecke; derjenige aber, welcher aus den Beobachtungen am Himmel
und auf dem Meere geführt wird, sehr nahe, weil er aus
sinnlicher Wahrnehmung und übereinstimmenden Beobachtungen
folgt. Wenn man auf der See ist, so überzeugt man sich deutlich
von der Wölbung des Meeres. Man kann ein Licht auf eine gewisse
Entfernung nicht wahrnehmen, wenn man auch mit ihm in gleicher
Breite ist; wird aber das Licht höher aufgesteckt, so sieht man
dasselbe, auch wenn man weiter als vorher davon entfernt ist. Auf
gleiche Weise wird man, wenn man eine höhere Stellung erhält,
dasjenige gewahr, was einem zuvor verborgen war. Darauf deutet
auch unser Dichter hin, wenn er z.B. sagt;
Scharf anstrengend den Blick, als steigend
die Well ihn emporhob.
Je näher man dem Lande kommt, desto mehr wird
von den niedrigen Teilen der Gegenstände sichtbar, und das, was
zuerst niedrig schien, zeigt sich immer höher. Die Umdrehung der
Himmelskörper um die Erde erhellt unter andern auch aus dem
Schatten der Sonnenuhr. Daraus folgert der Verstand geradezu,
daß eine Umdrehung nicht stattfinden könnte, wenn das Fundament
der Erde bis ins Unendliche hinabreichte. Was die Klimate
anlangt, so wird davon in dem Abschnitte von den Wohnplätzen die
Rede sein.
21. Für jetzt muß ich mehreres als
erwiesen annehmen, besonders wenn es sich um den Nutzen handelt,
den ein Staatsmann oder ein Heerführer daraus ziehen kann.
Dieser sollte freilich vom Himmel und von der Stellung der
Gestirne so viel wissen, daß er in Gegenden, wo er eine
Abweichung von den gewöhnlichen Vorgängen am Himmel wahrnimmt,
nicht aus der Fassung komme und folgendergestalt ausrufe:
Freunde, wir wissen ja nicht, wo Finsternis
oder wo Licht ist,
Nicht wo die leuchtende Sonne hinabsinkt
unter den Erdrand,
Noch wo sie wieder sich hebt.
Auf der andern Seite braucht er aber auch nicht
genau unterrichtet zu sein von den Sternen, die zu gleicher Zeit
auf- und unter- und durch die Mittagslinie gehen und im
Scheitelpunkt stehen; von den Polerhöhungen, so wie von anderen
ähnlichen Verhältnissen bei wirklicher oder scheinbarer
Verschiedenheit des Horizontes und der arktischen Kreise. Wem es
nicht um wissenschaftliche Kenntnis dieser Bestimmungen zu tun
ist, der braucht auch nicht so tief in sie einzugehen; er darf
sie als wahr annehmen, auch wenn er deren Grund nicht einsieht:
denn dies ist Sache des Gelehrten; ein Geschäftsmann aber hat
nicht so viel Zeit, wenigstens nicht immer. Dessenungeachtet darf
derjenige, welcher dieses Werk in die Hand nimmt, nicht so sehr
von allen Kenntnissen entblößt sein, daß er keine Vorstellung
hätte von einer Weltkugel und von den krummen Linien auf
derselben, nämlich den Parallelkreisen und denen, welche auf
diesen rechtwinklig stehen, und von den schiefen; und daß er die
Wendekreise, die Äquinoktialpunkte, den Tierkreis, durch welchen
die Sonne ihren Lauf hält, und die verschiedenen Klimate und
Winde nicht kennte. Denn wer dies, so wie die Lehre von dem
Horizont und den arktischen Kreisen, und was sonst noch in den
Anfangsgründen der Mathematik vorkommt, nicht inne hat, wie will
der diesem Vortrage nachkommen? Wer aber nichts von einer geraden
oder krummen Linie, von einem Kreis, nichts von den sieben
Sternen des großen Bärs, noch sonst von etwas dergleichen
versteht, der muß zuerst das studieren, ohne welches man mit der
Geographie nicht vertraut werden kann; oder er müßte diese
Vorträge entweder für immer, oder wenigstens gegenwärtig
entbehren können.
22. Diese Schrift soll eigentlich eine
gemeinnützliche sein, lehrreich für den Staatsmann und für den
Bürger, wie ein Geschichtswerk. Denn wir denken uns ja unter
einem Staatsmanne nicht einen Menschen ohne alle Bildung, sondern
einen, der den Schulunterricht und die gewöhnliche Erziehung
eines Freien und Wissenschaftliebenden genossen hat. Denn wer
sich nicht um das, was gut ist, nicht um die Lebensklugheit und
die dahin gehörigen Untersuchungen bekümmert, der ist auch
nicht sicher im Lob, im Tadel, oder im Urteile, ob eine Handlung
Auszeichnung verdiene.
23. Weil übrigens die Verfertiger der
Hafen- und Küstenbeschreibungen in ihren unvollständigen
Nachrichten die mathematischen und astronomischen Bemerkungen
übergehen, so entschloß ich mich nach Vollendung meiner
geschichtlichen Denkwürdigkeiten, welche, wie ich glaube,
nützliche Beiträge zur ethischen und politischen Philosophie
enthalten, diese Zusammenstellung nachfolgen zu lassen, ähnlich
dem vorigen Werk, und auch wie jenes denselben Männern, nämlich
solchen, die höhere Staatsämter bekleiden, gewidmet. Und wie
dort nur bedeutendere Männer und Begebenheiten aufgenommen sind,
mit Übergehung alles Geringeren, nicht Hervorragenden; so will
ich auch hier das Geringfügige und Unscheinbare weglassen, und
nur bei dem Ruhmwürdigen und Großen, zu taten Aufregenden,
Merkwürdigen und Unterhaltenden mich verweilen. Denn so wie man
bei kolossalen Kunstwerken nicht das Einzelne ängstlich
untersucht, sondern sich im Urteil durch den Gesamteindruck
bestimmen läßt, nach gleichen Grundsätzen möchte ich auch
dieses Werk beurteilt wissen. Denn es ist gleichfalls ein
kolossales Werk, in welchem Großes und Allgemeines beschrieben
wird, ausgenommen, wenn auch etwas Geringes dem Wißbegierigen
und Staatskundigen anziehend sein möchte. So viel über die
Behauptung, daß vorliegendes Werk ein bedeutendes, eines
Philosophen würdiges Unternehmen sei.
Zweites Kapitel
1. Indem ich jedoch einen Gegenstand
behandle, über den schon viele vor mir geschrieben haben, glaube
ich keinen Tadel zu verdienen; ich müßte denn dasselbe mit
denselben Worten vortragen. Wenn aber auch meine Vorgänger
manches geleistet haben, so ist doch noch ein so großes Stück
Arbeit übrig, daß ich hinreichende Entschuldigung wegen dieses
Werkes zu finden hoffe, wenn ich auch nur Weniges dem bisher
Bekannten hinzufüge. Denn die Herrschaft der Römer und der
Parther hat die geographische Kenntnis in unsern Tagen sehr
erweitert, wie früher der Feldzug Alexanders die Kenntnis
derjenigen, welche nach ihm lebten; was Eratosthenes bemerkt.
Denn Alexander hat unsern Blicken den größten Teil von Asien
und die nördlichen Striche Europas bis zum Ister geöffnet, die
Römer alle Westgegenden Europas bis zum Elbestrom, welcher
Germanien in der Mitte durchschneidet und weiter jenseits des
Isters bis zum Tyrasfluß. Die Kenntnis der ferneren Striche bis
zu den Mäoten und den bei den Kolchiern endenden Küstengegenden
verdanken wir dem Mithridates, mit dem Beinamen Eupator, und
seinen Feldherren. Die Parther haben uns mit Hyrkanien, mit
Baktriana und den Skythen nördlich über ihnen bekannter
gemacht, da diese früher nicht sehr bekannt waren. Und so kann
ich schon etwas mehr sagen, als meine Vorgänger. Dies erhellt
hauptsächlich aus meinen Bemerkungen gegen sie; nicht sowohl
gegen die Früheren, als gegen die, welche nach Eratosthenes
lebten, und gegen ihn selbst. Denn da diese die Sache viel besser
wissen konnten, als die gemeinen Leute, so sind sie um so mehr zu
tadeln, wenn sie sich Irrtümer zu Schulden kommen lassen. Sollte
ich übrigens in den Fall kommen, auch denen manchmal zu
widersprechen, welchen ich sonst hauptsächlich folge, so bitte
ich deswegen um Entschuldigung. Ich hatte mir vorgenommen, nicht
alle Schriftsteller kritisch zu behandeln, sondern diejenigen zu
übergehen, denen man in gar nichts folgen kann, und nur solche
zu beurteilen, die ich in den meisten Stücken als brauchbar
kenne. Denn es ist keine Ehre, gegen alle zu Felde zu ziehen;
aber gegen Eratosthenes, Posidonius, Hipparchus, Polybius und
andere Ähnliche lohnt sichs der Mühe.
2. Zuerst haben wirs mit
Eratosthenes zu tun, wobei wir zugleich die Einwendungen des
Hipparchus gegen ihn vorbringen wollen. Es ist übrigens
Eratosthenes nicht so verächtlich zu behandeln, daß man
behaupten könnte, er habe nicht einmal Athen gesehen, was Polemo
zu beweisen wagte: doch darf man ihm auch nicht alles glauben,
wie einige verlangen, wiewohl er, nach seiner eigenen Aussage,
mit sehr vielen vortrefflichen Männern umging. Es standen
nämlich, wie Eratosthenes sagt, zu seiner Zeit die Philosophen
Aristo und Arkesilaus in einer und derselben Stadt auf der
höchsten Stufe ihres Ruhmes. Dies ist aber noch nicht so
ausgemacht: man muß erst untersuchen, wem zu glauben ist. Er
aber nimmt den Arkesilaus und Aristo als die Ersten unter den
Philosophen seiner Zeit an; er lobt den Apelles und den Bion
über alle Maßen, und von dem Letzteren sagt er, er sei der
erste, der sich in eine blumige Philosophie gehüllt. Freilich
kommt mich dabei oft die Luft an, zu fragen:
Was soll Bion aus Lumpen?
Gerade in diesen Behauptungen zeigt er eine
Schwäche des eigenen Urteils. Er war mit Zeno aus Cittium zu
Athen bekannt geworden; und doch erwähnt er keinen seiner
Schüler. Aber seine Gegner, die keine Schule hinterlassen haben,
sollen (wie er sagt) zu jener Zeit geblüht haben. Auch seine
Schrift über das Gute, seine Untersuchungen und Ähnliches von
ihm, verraten den Grad seiner Bildung. Deswegen schwankt er
zwischen einem Philosophen und einem, der den Mut nicht hat, sich
ganz der Philosophie zu ergeben, und der sich mit dem Schein
begnügt. Oder waren jene Schriften von ihm nur eine Abschweifung
von seinen übrigen allgemeinen Studien, zu seiner eigenen
Unterhaltung und Übung? In anderen Sachen ist er gewissermaßen
eben so. Doch lassen wir das, und bemühen wir uns zuerst,
Geographisches zu berichten, und zwar in dem Punkte, welchen wir
oben unerörtert lassen mußten.
3. Eratosthenes behauptet nämlich, der
Dichter habe nur die Unterhaltung, nicht die Belehrung zum Zweck.
Dagegen sagen die Alten, Dichterwerke seien eine Art erster
Philosophie, welche uns in der Jugend ins Leben einführe, und
uns auf eine angenehme Weise Sitten, Leidenschaften und
Handlungen lehre; und unsere Schule sagt, der Dichter allein sei
der Weise; weswegen die griechischen Städte ihre Kinder in
früher Jugend durch Dichterwerk bilden lassen; und dies wohl
nicht, um ihnen eine angenehme Unterhaltung zu verschaffen,
sondern um ihnen Gesittung einzupflanzen. Geben sich doch aus
diesem Grunde die Musiker, welche auf der Zither, auf der Flöte
oder auf der Leier unterrichten, das Ansehen, als bezweckten sie
eben diese Eigenschaft, da sie sich Erzieher und Sittenbildner
nennen. Nicht bloß die Pythagoräer stellen obige Behauptung
auf; Aristoxenos lehrt ebenso, und Homer nennt die Sänger Weise;
so den Hüter der Klytämnestra
- dem ernstlich er auftrug,
Atreus Sohn, da gen Troja er fuhr, zu
bewahren die Gattin
Und Ägisthus habe die Wünsche auch nicht eher
erreicht, als bis er
Brachte den Sänger hinweg in ein wilderndes
Elend,
wo er ihn ... zurückließ.
Sie dann führt er, wollend die
Wollende, heim in die Wohnung.
Aber Eratosthenes steht auch außerdem mit sich
selbst im Widerspruch. Denn unmittelbar vor der obigen
Behauptung, da wo er von der Geographie anfängt, sagt er, alle
Dichter hätten sich von jeher etwas darauf zu gut getan, ihre
Kenntnisse in diesem Fache zu zeigen. Homer habe in seinen
Gedichten niedergelegt, was er von den Äthiopen, über Ägypten
und Libyen gewußt; ja bei Hellas und den umliegenden Gegenden
sei er gar zu sehr ins Einzelne gegangen, indem er z.B. vom
taubenreichen Thisbe, von dem grasreichen Haliartus, von der
Grenzstadt Anthedon und von Liläa an den Quellen des Cephissus
rede; und keines dieser Beiwörter stehe ohne Bedeutung.
Wird nun ein Dichter, der solche Stellen hat,
unterhalten oder belehren wollen? Ich denke: belehren. So spricht
Homer von diesen Örtern. Die Gegenden freilich, welche über die
Grenze seiner Erfahrung hinausreichten, hat er, wie so viele
andere, mit Wundersagen angefüllt. Daher hätte sich
Eratosthenes so ausdrücken sollen, des Dichters Absicht sei,
bald zu unterhalten, bald zu belehren; er aber nimmt nur das
Erste, nicht aber das Zweite als Zweck desselben an. Dabei fragt
er, was dem Dichter als solchem die Kenntnis vieler Örter, der
Kriegskunst, des Landbaus oder der Redekunst, oder was man noch
alles dem Dichter zumuten wolle, eigentlich nütze? Wer solche
unmäßigen Forderungen an ihn mache, der lasse sich durch seinen
Eifer zu sehr hinreißen: wie wenn jemand, nach Hipparchus
Ausdruck, an dem heiligen Zweige, die Attische Eiresione genannt,
auch Äpfel und Birnen suchen wollte. So sei es gerade, wenn man
vom Dichter alle Wissenschaften und Künste verlangte. Und
insofern hast du Recht, mein Eratosthenes! Aber da hast du
Unrecht, wenn du den Dichter von vielseitigen Kenntnissen
lossprichst, und die Poesie zur Märchendichtung alter Weiber
herabwürdigst, die das Recht hat, alles zu ersinnen, was zur
Unterhaltung beitragen mag. So also sollten die Dichter nichts
zur Bildung der Leser beitragen können? Ich meine nämlich, mit
ihrer Kenntnis vieler Örter, oder der Kriegskunst, oder des
Ackerbaus, oder der Rhetorik. Natürlich lernt man beim Lesen
manches von diesen Dingen.
4. Alle diese Kenntnisse aber legt der
Dichter dem Odysseus bei, den er vor allen mit jeglicher Tugend
schmückt. Denn er ists, der nach ihm
Vieler Menschen Städte gesehn, und
Sitte gelernt hat.
Er war
Wohl in mancherlei Listen gewandt und
bedachtsamer Klugheit.
Er heißt immer der Städteverwüster, und der
Troja erobert
Nur durch Rat und Worte allein, und
täuschende Künste.
Wenn mich dieser begleitet, sogar aus
flammendem Feuer
Kehrten wir beide zurück,
sagt Diomedes. Er selbst rühmt seine Kenntnis
des Landbaus. Er sagt in der Stelle von der Mähezeit:
Gras zu mähn selbst hielt ich
die schön gebogene Sense.
So auch hieltest sie du;
und dort, wo er vom Pflügen spricht:
Wahrlich du sähst, ob die Furch
in einem Zug sich hinabschnitt.
Ists denn nicht eigentlich Homer, der so
denkt? Und berufen sich nicht alle Gebildeten auf Homers Zeugnis,
daß er Recht habe, wenn er durch dergleichen Kenntnisse
Belehrung bezwecke?
5. Die rednerische Kraft aber liegt in
den Worten; und diese zeigt Homer durch seine ganze Dichtung
hindurch, z.B. im Versuch, in den Bitten und in der Sendung, wo
er sagt:
Aber sobald er der Brust die gewaltigen
Stimmen entsandte
Und ein Gedräng der Worte, wie
stöbernde Winterflocken;
Dann wetteiferte traun kein Sterblicher
sonst mit Odysseus.
Wer könnte nun annehmen, daß ein Dichter, der
andere als gute Redner, und Feldherren, und auch sonst als
Männer von Vorzügen darzustellen imstande ist, nichts sei als
ein Schwätzer und Gaukler, der zwar seine Leser zu bezaubern und
zu kirren, aber ihnen nicht zu nützen verstehe? In welcher
andern Tüchtigkeit aber möchten wir die Kunst des Dichters aber
möchten wir die Kunst des Dichters bestehen lassen, als in der
Darstellung des Lebens durch Worte? Wie kann er aber das Leben
darstellen, wenn er es nicht kennt und ungebildet ist? Denn des
Dichters Kunst ist doch wahrhaftig nicht wie die des Schmiedes
oder des Zimmermanns, an der nichts Schönes und Edles ist; seine
Tugenden hingegen sind durch die Tugenden der Menschen bedingt,
und es kann der kein guter Dichter sein, der nicht zuvor ein
guter Mensch ist.
6. Wer aber gar den Dichter von der
Redekunst freisprechen will, der hat wohl im Sinn, uns zum Besten
zu halten. Was ist einem Redner, was ist einem Dichter
unentbehrlicher als der Ausdruck und wer wüßte sich besser
auszudrücken als Homer? Es ist zwar der dichterische Ausdruck
von dem prosaischen verschieden; und bei dem dichterischen selbst
macht man einen Unterschied zwischen dem tragischen und dem
komischen, so wie bei dem prosaischen zwischen dem erzählenden
und gerichtlichen. Ausdruck ist also der Gattungsbegriff, der in
die Arten des dichterischen und prosaischen zerfällt. Ich sage
Ausdruck, nicht bloß rednerischer Ausdruck und Kraft der Rede;
denn der prosaische Ausdruck ist bloß eine Nachahmung des
poetischen. Denn es trat zuerst die poetische Darstellung auf,
und erhielt Beifall, hernach lösten zwar einige Nachahmer
derselben die Fesseln des Versbaus, behielten aber im übrigen
die dichterische Schreibart bei. Hierher gehören Kadmus,
Pherecydes und Hekatäus; die Späteren ließen immer mehr
Dichterisches weg und brachten sie, wie aus der Höhe, zur
heutigen Schreibart herunter, gerade wie man auch von dem
Lustspiel sagen könnte, es sei aus dem Trauerspiel dadurch
entstanden, daß dieses herabgestiegen sei von seiner Höhe zu
dem, was man den Ausdruck des gemeinen Lebens nennt. Und daß man
im Altertum singen für reden sagte, das ist eben
ein Beweis, daß die Quelle und der Ursprung der geordneten Rede
und der Redekunst die Poesie ist; diese bediente sich des
Gesanges, wenn sie auftrat; und es war die Ode nichts anderes als
eine gesungene Rede, woher auch der Name Rhapsodie, Tragödie und
Komödie. Da nun der Ausruck reden hauptsächlich von der
dichterischen Rede gebraucht wurde, diese aber vom Gesang
begleitet war, so wurden bei ihnen die Ausdrücke singen
und reden gleichbedeutend; und so ist die prosaische, des
Versmaßes ermangelnde Rede dem ähnlich, der von einer Höhe,
aus einem Wagen auf die Erde herab steigt.
7. Jedoch nicht bloß die naher Örter,
wie Eratosthenes sagt, und die bei den Griechen vorkommen,
sondern auch viele weit entfernte gibt Homer genau an, und zwar
genauer als die späteren Mythenschreiber, wobei er nicht
zwecklos nach Wundern jagt, sondern manches zur Belehrung, zum
Schmuck und um zu gefallen, in Bildern darstellt, besonders bei
der Irrfahrt des Odysseus. In dieser Hinsicht täuscht sich
Eratosthenes sehr, wenn er den Dichter samt seinen Auslegern
Schwätzer nennt, worüber ich nun ein Mehreres reden muß.
8. Was erstlich die Mythen betrifft, so
sind die Dichter nicht die ersten, die sie aufgenommen haben;
sondern lange vor ihnen taten das die Staaten und die Gesetzgeber
in einer weisen Absicht, indem sie auf die sinnliche Natur des
vernünftigen menschlichen Wesens Rücksicht nahmen. Denn der
Mensch ist wißbegierig und hört, wenn er noch jünger ist,
gerne Wunder; weswegen man auch die Kinder dadurch zum Zuhören
und zur Aufmerksamkeit auf das Vorgetragene gewöhnt. Denn die
Mythe bringt immer etwas Neues und nicht das schon Vorhandene,
sondern was noch nicht da ist; und eben darin, daß etwas noch
neu und vorher nie gekannt ist, liegt der Reiz, der die
Wißbegierde erregt. Wenn nun in einer Mythe auch etwas Seltsames
oder Wunderbares vorkommt, so erhöht dies die angenehme
Empfindung, deren Erregung eben das Zaubermittel des Unterrichts
ist. Im Anfang sind solche Lockspeisen notwendig; die erwachsene
Jugend aber muß man zur Kenntnis des Wirklichen anleiten, da der
erstarkte Verstand solcher Reizmittel nicht mehr bedarf. Wiewohl
jeder Unerfahrene und Ungebildete ist im Grund ein Kind, und
liebt das Wunderbare wie ein Kind: ebenso der nur Halbgebildete.
Denn auch bei diesem ist der Verstand nicht vorherrschend,
sondern es kleben ihm noch die kindischen Gewohnheiten an. Es
gibt aber nicht bloß anziehende, sondern auch abschreckende
Mythen, weshalb man sich beider für die Jugend, wie für die
Erwachsenen bedient. Die unterhaltenden Mythen erzählen wir den
Knaben zur Aufmunterung, die abschreckenden zur Warnung. Zu den
letzteren gehört das Märchen von der Lamia, der Gorgo, vom
Ephialtes [Alp] und von der Mormolyke. Die meisten derer, die in
Städten wohnen, werden durch schöne Mythen zur Nacheiferung
aufgemuntert, wenn sie die Dichter edle Taten aus der mythischen
Zeit erzählen hören, wie z.B. die Kämpfe des Herakles oder des
Theseus, oder die Ehre, die ihnen von den Göttern widerfuhr;
oder auch, wenn sie Gemälde, Schnitzbilder oder sonstige
plastische Kunstwerke schauen, welche solche Begebenheiten aus
dem höchsten Altertum darstellen; zur Warnung aber dient es
ihnen, wenn sie die Strafen, die Schrecknisse, die Drohungen der
Götter in Schilderungen, oder in Abscheu erregenden Abbildungen
erblicken, oder doch glauben, daß dies über manchen verhängt
worden sei. Denn es kann der Philosoph den Haufen der Weiber und
des übrigen gemeinen Volkes nicht durch Gründe überzeugen, und
zur Frömmigkeit, Sittlichkeit und Redlichkeit führen, sondern
es bedarf dazu der Scheu vor den Göttern: diese aber beruht auf
Mythen und Wundern. Donnerkeil, Ägide, Dreizack, Fackeln,
Drachen, Thyrsoslanzen, als Götterwaffen, sind Märchen, samt
der ganzen alten Theologie, erfunden von den Gründern der
Staaten, kindische Gemüter damit zu schrecken. So verhält es
sich mit der Erfindung der Mythen, die sich allmählich in das
gesellschaftliche und politische Leben und in die wirkliche
Geschichte eng verwebten. Und diese Erziehung, wie sie nur
Kindern geziemt, ließen die Alten auch noch dem reiferen Alter,
in der Meinung, jedes Alter lasse sich durch die Poesie bilden.
In späteren Zeiten trat die Geschichte mit ihrer Wahrheit und
die jetzige Philosophie auf. Diese ist freilich nur für wenige,
die Dichtung hingegen ist bei dem Volke beliebter, und geeignet,
die Theater zu füllen, vorzugsweise die des Homer. Und darum
sind die ersten Geschichtsschreiber und Naturlehrer zugleich
Mythendichter.
9. In dem, was der Dichter [Homer] zur
Belehrung erzählt, befleißigt er sich größtenteils der
Wahrheit, nur bisweilen mischt er auch Unwahres ein: jene liegt
bei ihm zum Grunde; diese gebraucht er, um die Menge anzuziehen
und zu leiten.
Wie wenn ein künstlicher Mann mit Gold das
Silber beleget,
so verwebte er in die wahren Begebenheiten die
Mythe, als Reiz und Schmuck der Rede; sein Endzweck aber war kein
anderer als der des Historikers, dessen, der die Wahrheit
darstellt. Das Wahre ist bei ihm der trojanische Krieg, und die
Irrfahrt des Odysseus; beides verschönert er durch Fabeln. Denn
Wunder ersinnen, die sich nicht auf etwas Wahres beziehen, ist
nicht Homers Sache, und Dichtung, mit Wahrheit gemischt, gewinnt
natürlich an Wahrscheinlichkeit; eine Behauptung, die auch
Polybius in seiner Untersuchung über die Irrfahrt des Odysseus
aufstellt. Dahin gehört auch der Vers:
Also der Täuschung viel erdichtet er,
ähnlich der Wahrheit.
Nicht alles, sondern nur viel erdichtete er;
sonst wäre es nicht wahrscheinlich gewesen. Das Geschichtliche
legte er zu Grund. Er läßt den Äolus die Inseln um Lipara, die
Zyklopen und gewisse ungastliche Lästrygonen die Gegenden um den
Ätna und bei den Leontinern beherrschen, weil der Strich an der
Sizilischen Meerenge, da namentlich auch in der Gegend um die
Charybdis und Skylla Räuber hausten, unsicher war. Und so finden
wir im Homer dem einen hier, dem andern dort seine Stelle
angewiesen. Und den Cimmeriern, von denen er wußte, daß sie
gegen Norden in neblichten Gegenden wohnen, weist er mit Fleiß
dunkle Wohnungen in der Nähe der Unterwelt an. Daß er sie aber
kennen mußte, geht aus dem Umstande hervor, weil die Chronologen
den Einfall der Kimmerier kurz vor ihm, oder in seine Zeit
setzen.
10. Er kannte die Kolchier, er kannte
Jasons Fahrt nach Äa, die Sagen von der Circe und Medea, und was
von ihren Zaubertränken und sonstigen Übereinstimmungen in dem
Leben beider erzählt wird. Er macht sie einander verwandt, ob
sie gleich weit von einander entfernt waren, die zweite in einem
Winkel des Pontus, die erste in Italien, und setzt sie in den
äußeren Ozean. Wahrscheinlich hatte sich auch Jason bis gegen
Italien hin verirrt: denn es finden sich am Ceraunischen
Vorgebirg am adriatischen Meere, am Busen von Pästum, und
auf den Inseln vor Etrurien Spuren von der Irrfahrt der
Argonauten. Dazu trugen auch die cyaneischen Klippen bei, die man
auch Symplegaden nennt, welche die Durchfahrt durch die
byzantische Meerenge gefährlich machen: denn wie aus dem Aea
(der Medea) ein Ääa (der Circe) entstand, so auch die Planktä
aus den Symplegaden. So bildete sich auch, da die Skylla und
Charybdis bekannt waren die Sage von der Durchfahrt durch diese
Klippen. Natürlich sah man in jener Zeit das pontische Meer als
einen anderen Ozean an, und meint, die auf ihm Schiffenden
steuerten ebenso ins Endlose hinaus, wie diejenigen, welche sich
weit von den Säulen entfernen. Denn es wurde für das größte
Meer innerhalb des festen Landes gehalten, und deswegen nannte
man es auch vorzugsweise den Pontus, wie den Homer vorzugsweise
den Dichter. Vielleicht trug dieser eben deswegen das, was vom
Pontus galt, auf den Ozean über, was man wegen der herrschenden
Meinung sich gerne gefallen ließ. Ich glaube auch, daß die
Solymer, welche auf den höchsten Bergen des Taurus über Lykien
hin bis nach Pisidien wohnen, und deren höchste Gipfel gegen
Süden, innerhalb des Taurus auf der Meerseite sich befinden,
wegen dieser Ähnlichkeit in den Ozean hinaus verlegt habe. Denn
so spricht er von Odysseus, der auf dem Floße fährt:
Aber Poseidon, zurück von den Äthiopen
sich wendend,
Schaut ihn fern von den Bergen der
Solymer.
Vielleicht hat er auch jene einäugigen
Zyklopen aus der skythischen Geschichte entlehnt; denn es soll
solche Leute, Arimaspen genannt, gegeben haben, wie Aristeas von
Prokonnesus in seinem arimaspischen Gedichte erzählt.
11. Dies vorausgesetzt, müssen wir
untersuchen, was diejenigen sagen, welche die Irrfahrt des
Odysseus nach Homer in die Nähe von Sizilien oder Italien
setzen, und diejenigen, welche dies leugnen. Denn es läßt sich
beides behaupten, nur das eine mit mehr Grund als das andere. Mit
mehr Grund läßt sich die Irrfahrt des Odysseus in jenen
Gegenden behaupten, und annehmen, er habe diese wahre Begebenheit
dichterisch ausgeschmückt. So läßt es sich auf eine
ungezwungene Weise erklären. Und in der Tat findet man sowohl
von seiner Irrfahrt, als auch von den Irrfahrten anderer
verschiedene Spuren in der Gegend von Italien, bis an die
äußersten Punkte Iberiens. Unrichtiger ist es, wenn jemand auch
die Ausschmückung für historische Wahrheit ansieht, da man den
Ozean, den Hades, die Sonnenrinder, die gastliche Aufnahme bei
den Göttinnen, die Verwandlungen, die Größe der Zyklopen und
Lästygonen, die Gestalt der Skylla, die Entfernungen der
Fahrten, und dergleichen mehr, leicht als dichterische Zusätze
erkennt. Einen, den der Dichter so schlecht verstanden hat, zu
widerlegen, ist ebenso unnötig, als eine Widerlegung der
Behauptung, daß Odysseus auf die beschriebene Weise wirklich
nach Ithaka geschifft sei, die Freier getötet und die Schlacht
mit den Ithakern auf dem Felde bestanden habe. Aber man muß auch
den nicht widerlegen wollen, der dies auf eine ungezwungene Art
erklärt.
12. Beide Annahmen werden von
Eratosthenes nicht gründlich bestritten; denn er sucht
einesteils das offenbar Erdichtete, worüber gar nichts zu sagen
ist, weitläufig zu widerlegen; andernteils behauptet er, der
Dichter schwatze in den Tag hinein, und meint, es trage die
Kenntnis der Örter und der verschiedenen Künste nichts zur
geistigen Bildung bei: es sei nichts mit seinen Mythen, sowohl
mit denen, die sich auf nicht erdichtete Örter beziehen, wie
z.B. auf Ilium, auf den Pelion und Ida, wie mit solchen, die an
erdichtete Stellen versetzt werden, wie dies bei den Gorgonen und
Geriones der Fall ist. Ebenso verhalte es sich mit der Erzählung
von der Irrfahrt des Odysseus. Die Behauptung derer, welche
sagen, sie sei nicht erdichtet, sondern es liege ihr etwas Wahres
zu Grunde, lasse sich aus dem Mangel an Übereinstimmung
widerlegen, indem z.B. einige die Sirenen an das Vorgebirge
Pelorum setzen, andere auf die Inseln Syrenusä , Stellen, die
mehr als 2000 Stadien von einander entfernt seien; es beständen
aber diese Inseln aus einer dreizackigen Klippe zwischen den
beiden Busen von Cumä und von Posidonia [Pästum]. Allein es ist
hier weder von einer dreizackigen Klippe, noch überhaupt von
einer Hervorragung über das Meer eine Spur zu finden; sondern es
zieht sich ein weite Bucht an die Meerenge gegen Capreä in der
Gegend von Surrentum, auf deren (nördlicher) gebirgiger Seite
ein Tempel der Sirenen, und auf der entgegengesetzten Seite an
dem Busen von Posidonia drei unbewohnte, felsige Inselchen sich
befinden, welche man Sirenusä nennt. Am äußersten Punkt der
Meerenge steht der Tempel der Minerva, wovon auch die Bucht den
Namen hat.
13. Aber man muß, wenn diejenigen,
welche gewisse Gegenden beschreiben, nicht übereinstimmen, nicht
sogleich die ganze Erzählung verwerfen; vielmehr wird sie
bisweilen eben dadurch im allgemeinen bestätigt. Wenn man z.B.
eine Untersuchung anstellt, ob die Irrfahrt [des Odysseus] in der
Nähe von Sizilien und Italien gewesen, und ob den Sirenen
irgendwo in diesen Gegenden ihre Wohnung anzuweisen sei, und wenn
sie nun der Eine gegen Pelorum, ein Anderer auf die Sirenusen
setzt; so sind zwar beide hierüber verschiedener Meinung, nicht
aber über die Nähe Siziliens und Italiens, als welche durch sie
nur noch mehr bestätigt wird, da sie, zwar über die Lage der
Sireneninseln nicht einig, doch darin übereinstimmen, daß
dieselbe bei Italien oder Sizilien zu suchen sei. Und wenn noch
angegeben wird, daß man in Neapeldas Grabmahl der Parthenope,
einer der Sirenen, zeige, so bestärkt dies die Überzeugung noch
mehr, obgleich alsdann ein dritter Ort für sie herauskäme. Da
übrigens an dem Busen, welchen Eratosthenes den Kumäischen
nennt, den die Sirenusä bilden, auch Neapel liegt, so wird die
Wahrscheinlichkeit des Aufenthalts der Sirenen in diesen Gegenden
noch erhöht. Es ist ja nicht anzunehmen, daß der Dichter alles
so sorgfältig untersucht habe, weshalb wir hierin kein große
Genauigkeit bei ihm erwarten dürfen. Jedoch will ich dies nicht
so verstanden haben, als glaubte ich, er habe eben seine
Rhapsodien gedichtet, ohne von der Irrfahrt des Odysseus und von
den Örtlichkeiten und den übrigen Umständen etwas gewußt zu
haben.
14. Hesiodus aber hat, wie Eratosthenes
vermutet, etwas von des Odysseus Irrfahrt g