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Ordericus Vitalis ist einer der hervorragendsten anglo-normannischen Geschichtsschreiber des 11. Jh.s. Sein Lebenswerk ist die aus dreizehn Büchern bestehende Historia ecclesiastica, die wichtigste Quelle der mit Wilhelm dem Eroberer beginnenden normannischen Geschichte zwischen 1087 und 1141. Die für die Geschichte des ersten Kreuzzugs und des Königreichs Jerusalem wichtigen Bücher sind die mit den Nummern IX und X, wofür Ordericus die Historia Ierosolimitana des Erzbischofs Balderich von Dol verwendete, der seinerseits die anonyme Gesta Francorum als Vorlage benutzte. Der folgende Auszug aus Buch X, Kap. 22, schildert in epischer Form die heroische Flucht König Balduins auf seiner arabischen Lieblingsstute namens Gazelle von Ramla nach Arsuf und ist eine derjenigen Episoden, die sich unter abendländischen Historikern am raschesten verbreiteten und durch fahrende Sänger einen hohen Bekanntheitsgrad erfuhren.
Als Gerüchte sich eindeutig bestätigt hatten, daß der
Emir von Ägypten Askalon erreicht habe und fest
entschlossen sei, die Christen am nächsten Tag mit großen Heerscharen
anzugreifen, bestärkten König Balduin und Stephan sowie die anderen Gläubigen sich
gegenseitig im Herrn Jesus und wappneten sich im Vertrauen darauf, in seinem
Namen einen glänzenden Sieg zu erringen, ihre Feinde entweder zu töten oder
selbst zu sterben. Sie sandten einen Teil des Heeres nach Joppe. Der König ging mit dem
Großteil des Adels nach Ramla, denn sie wollten nicht
in Jerusalem eingeschlossen werden, und darüber hinaus wußten sie nicht, welche
Stadt die Türken als erste angreifen würden. Schließlich unternahmen der Emir
und sein unermeßliches Heer einen Überraschungsangriff, umstellten Ramla und versuchten, indem sie Wurfgeschosse schleuderten
und verschiedenartige Belagerungsmaschinen einsetzten, die Mauer zu stürmen und
mit Hacken und Spaten zu untergraben. Es waren einige hervorragende Ritter in
der Stadt, doch war ihre Zahl gering, und sie waren nicht stark genug, um der
Wucht einer so riesigen Menge zu widerstehen. Daher bewogen Stephan und Arpin und Wilhelm Habenichts und all die andern den König,
in höchster Eile nach Jerusalem zu reiten. „Geht
so schnell es irgend geht in die Heilige Stadt, tapferer Herr", sprachen
sie, „damit diese starken Kräfte nicht
hergehen können und sie einschließen, während sie keinen Beschützer hat, und
unsere Vaterstadt und all ihre Söhne in einem plötzlichen Angriff vernichten.
Wie Ihr seht, sind wir hier auf ebendieselbe Weise
eingeschlossen und blicken zuversichtlich im Glauben an Christi unserem Ende
entgegen, unseren Schöpfer im Innersten unseres Herzens anflehend, daß wir
seine wahren Märtyrer seien und dadurch, daß wir unser Blut in seinem Namen
vergießen, von all unseren Sünden gereinigt, es verdienen mögen, in Gegenwart
seiner Heiligen sein seliges Antlitz zu erblicken, welches gnädig auf uns
herabschaut. Lebt wohl, gütiger König; geht ohne Säumen, auch wenn es, wofern
Euch nicht göttliche Gnade begleitet, schwierig sein mag, einen Weg durch so
viele Reihen grimmiger Feinde zu finden."
Dieses und anderes Zweckdienliche sprachen die besorgten
Herren zum König und bewogen ihn, sich aus einer Gefahr heraus in eine größere
hineinzubegeben. Widerwillig gab er der Überredungskunst dieser Großen nach;
von einem Ritter begleitet, bestieg er seine flinke ausdauernde Stute namens
Gazelle und gelangte, indem er sich nachts aus der Stadt herausschlich, mit
Gottes Hilfe unverletzt durch die feindlichen Scharen. Als er das Lager der
Heiden in der Dunkelheit durchquert hatte und versuchte, sich auf krummen Wegen
nach Jerusalem durchzukämpfen, bemerkten die Wachen auf ihrem Posten, daß
fremde Ritter vorbeigekommen waren, und schlugen Alarm. Sie rüttelten die
Mannschaften wach und verfolgten die Flüchtenden,
wobei sie zwei Meilen weit, laut lärmend, durchdringende Schreie ausstießen. Doch
der König, der die Schleichwege kannte, hielt sich geradeaus und entkam unter
großen Schwierigkeiten mit Gottes Hilfe unverletzt. Beim Übergang über das
Gebirge verließ er schlotternd die Straße, der nach Jerusalem zu folgen er
gerade im Begriff gewesen war, und setzte seinen Weg auf mühsamen Pfaden bis
nach der Stadt Arsuf fort, wo er die Wächter in
wachsamer Bestürzung antraf. Er sprach sie sogleich an, doch wollten sie ihn
nicht einlassen, denn obwohl er zur Wachmannschaft gleich zu Beginn gesagt hatte:
„Ich bin Balduin; habt keine Angst, laßt
mich ein", fürchteten sie die zahlreichen Kriegslisten des Feindes und
glaubten ihm nicht, bis sie ein Licht auf den Mauern entzündet hatten und ihn,
nachdem sie sein Haupt bei hochgehobenem Helm sahen, erkannten. Darauf wurde er
mit Freuden eingelassen und beruhigte die Besatzung; während er ihnen die
Neuigkeiten erzählte, befahl er ihnen, ihre Schutzwehr herzustellen.
Von dort eilte der König, nachdem er seine Gazelle bestieg
und von seinem Mitritter begleitet, nach Joppe; von den Bürgern willkommen
geheißen, betrat er die Tore und erzählte die traurige Geschichte. „Zahllose Heidenscharen", sagte er, „umlagern Ramla und
kämpfen gegen die, die dort die Stellung halten, bis auf den Tod. Jener
berühmte Herr, der Pfalzgraf Stephan von Blois, Miles von Bray
und Arpin von Bourges,
Wilhelm Habenichts und sein Bruder Simon und andere tapfere Herren werden in Ramla zu Christi Märtyrern und haben mich gezwungen zu
gehen, damit ich Euch und Eure Brüder dazu ermutigen könnte, ihrem Beispiel zu
folgen. Unsere Feinde sind hinter uns hergehetzt, und ich glaube, daß sie jeden
Augenblick hier sind. Wenn Ihr denn einverstanden seid, werden wir einen Boten
nach Jerusalem schicken und dem Patriarchen und unseren Brüdern allen befehlen,
uns in unserer großen Gefahr schnell zu Hilfe zu kommen, in geregelter
Aufstellung, wie ich sie ihnen vorschreiben werde." Da diesen Rat alle
guthießen, rief der König einen tapferen Junker zu sich und sprach: „Mein Freund, eile geschwind nach Jerusalem
und bringe die Streitkräfte unserer Brüder hierher zu uns; wenn Du überlebst,
schlage ich Dich zum Ritter, wenn wir uns das nächste Mal begegnen." Er
erfüllte den ihm anvertrauten Auftrag rasch mit vollem Erfolg und verdiente die
ihm versprochenen ritterlichen Ehrenzeichen mit Recht.
Das abscheuliche Heer der Heiden zerstörte Ramla, und sie erschlugen jeden, den sie in der Stadt
antrafen, oder schleppten ihn in die Gefangenschaft. Dann zogen sie, vom Siege
aufgebläht, am gleichen Tage nach Joppe weiter, wobei sie die Erde mit ihren
Schwärmen bevölkerten wie die Heuschrecken, und schickten Graf Stephan und die
anderen, welche sie als die edleren Gefangenen ansahen, nach Askalon. Zwei Tage lang blieben sie unter Abriegelung der
Stadt davor liegen; am dritten Tag zogen sie sich schmachvoll und unter
Verlusten zurück, denn Jaffas Burgbesatzung erblickte die Standarten des
Jerusalemer Heeres auf den Bergen in der Nähe der Burgunderburg und gab diese
Nachricht freudig an den König weiter. Dieser ließ seine Vasallenschar kommen
und sprach, indem er sie mit mutigen Worten anfeuerte: „Nun ist die Zeit gekommen für alle tapferen Ritter, der
Augenblick ist günstig für edle Kämpen, um ihre Freunde zu rächen, und
verhängnisvoll für Feiglinge und Drückeberger, die sich auf die Verschlagenheit
von Füchsen und andere Schliche verstehen. Hier nun seht Ihr einen
hassenswerten Feind, draußen vor den Toren, dem Herrgott ebenso verhaßt wie
jedem Gläubigen. Zu den Waffen! furchtlose Krieger, erhebt Euch in aller
Herrlichkeit gegen die Feinde der Gerechten. Lasset uns kühn die Waffen
ergreifen, um an Gott Vergeltung zu üben; während unser Entsatz heranrückt aus
der Stadt stürmen und mit Gottes Schutz tapfer im Glauben kämpfen. Blickt
zurück auf alle Eure Wunden und Kränkungen in Euren Herzen, und laßt die
Fremdlinge Euren starken Arm fühlen. Sie haben Graf Stephan und Arpin und andere Große getötet und haben unsere
berühmtesten Ritter und Anführer verschleppt, Edelleute, wie ich unter Seufzen
gestehe, nicht geringer als jene, die man sonstwo auf der Welt findet. Möge das
jüngste Leid über den Tod Eurer Freunde Eure Herzen entflammen und Euch dazu
anstacheln, Eure Feinde zu vernichten. Denkt an David, den mutigsten unter den
Königen, und seine Soldaten Joab und Abischai, denkt an Benaja und Uria den Hetiter und Jonatan und Judas Makkabäus und viele andere denkwürdige
Sieger Eures Volks. Laßt uns hinausgehen und den Kampf aufnehmen, und das Heer
aus Jerusalem, welches uns zu Hilfe eilt, wird den Ungläubigen von der andern
Richtung einen Schlag versetzen. Möge der große Immanuel, der Sohn der heiligen
Jungfrau Maria, der Euer König ist und der Erste und unbezwingbare Beschützer
seiner Kirche, mit Euch sein."
Unterdessen näherte sich das Heer Jerusalems Arnolds Burg,
und die Türken bekamen ihre Standarten zu Gesicht. König Balduin und die
Menschen von Joppe knieten in Verehrung vor dem heiligen Kreuz des Herrn
nieder, trugen es sodann in voller Rüstung mit sich vor die Tore hinaus und
setzten einen heftigen Angriff auf ihre unbewaffneten Feinde in Gang. Doch die
Sarazenen, die sich von beiden Seiten angegriffen sahen, ebenso unvorbereitet
wie planlos handelnd, begannen in ihrer Furcht vor Gott, die sie im Herzen
trugen, zu fliehen und erlebten eine ähnliche Katastrophe wie das Heer des Holofernes. König Balduin und die Christen verfolgten die
Heiden bis nach Askalon, töteten auch eine Unmenge
beim Ausplündern der Nachhut und befreiten alle Kriegsgefangenen, die jene
gemacht hatten und vor sich hertrieben. Doch die Anführer, die nach Askalon vorausgeschickt worden waren, blieben verschollen,
und wir haben von keinem von ihnen jemals irgendwelche Lebenszeichen erhalten,
außer von Arpin. So errangen die Christen nach vielen
Prüfungen einen großen Sieg im Namen Christi und kehrten mit der riesigen Beute
der Ungläubigen nach Jerusalem zurück, wo sie Gott, der mit ihnen triumphierte,
freudig ihren Dank abstatteten. Danach brachten sie Ramla
in einen besseren Zustand als zuvor und ließen dort frommen Sinnes im Namen des
Herrn wieder einen Bischofssitz mit entsprechenden Einkünften errichten. Ich
kann der Nachwelt an dieser Stelle die Zahl der Getöteten nicht zuverlässig
überliefern, weil ich nicht zugegen war. Die, die dort waren, waren zu sehr
damit beschäftigt, mit ihrer Tötung zu rechnen, und gingen nur deshalb zurück,
um die Beute der Toten an sich zu nehmen.
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